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VL2: J.K. Rowling; Harry Potter Bd.1 - Kapitel 3

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Mooncat:
Kapitel 3 zeigt den Übergang vom normalen Alltagsleben von Harry und den Dursleys zu - nun ja, Nicht-Alltagsleben.

Die Zeit nach Dudleys Geburtstag ist eine harte für Harry. Erst hat er den längsten Stubenarrest seines Lebens und ist zudem Liblingsziel für Dudleys Bullying und wird, so scheint es, pausenlos von ihm und seinen Freunden schikaniert. Ausserdem laufen die Vorbereitungen für den Schulanfang im September, die einmal mehr zeigen wir Harry als Aschenputtel der Familie benachteiligt während Dudley weiterhin pausenlos bevorzugt wird.
Das ändert sich, als Harry plötzlich einen Brief an ihn adressiert in der Hand hält - seinen ersten. Blöderweise schaltet er nicht schnell genug und öffnet ihn direkt sondern trägt ihn mit der anderen Post in die Küche zu den Dursleys - wo Dudley natürlich sofort seinen Eltern darauf aufmerksam macht und so Vernon ihm den Brief wegnimmt bevor Harry ihn öffnet. Vernon und Petunia scheinen sofort zu wissen was Sache ist, schweigen aber. Sogar Dudley und seine Quängelei/Tobsucht werden für einmal von den Eltern ignoriert.
Vernon will den Brief ignorieren und zerstört ihn. Das einzige Zugeständnis das er macht ist, dass er Harry plötzlich vom Schrank unter der Treppe in Dudleys Spielzimmer einquartiert, sehr zu dessem Verdruss. Der Plan des Ignorierens geht aber nicht auf. Die Briefe flattern weiterhin in Scharen ins Haus, aber er unternimmt alles, damit die Jungs keinen in die Hände kriegen. Er geht so weit, dass er sie alle ins Auto verfrachtet und erst in ein Hotel und - als das nichts nützt - auf eine einsame Insel in einen Leuchtturm flüchtet. Pünktlich zu Harrys 11. Geburtstag. Der zählt die Sekunden bis Mitternacht, die Uhr schlägt - und mit dem 12. Schlag fliegt die Tür auf.

Falls es durch die Zusammenfassung noch nicht klar geworden ist - ich halte nicht besonders viel von diesem Kapitel. Das einzig interessante daran sind die Briefschwärme, die nicht nachlassen und die Beschriftung der Briefe - wobei ich das im Übrigen im Film viel eindrücklicher umgesetzt finde als es im Buch rüberkommt. Aber damit hört es auch schon auf.
Was mich stört? Erstens v.a. Dingen die Dursleys, die ach so furchtbar sind und Harry, der ja ach so arm ist. Sie sind alle in ihren Rollen so stark überzeichnet, dass es für mich gerade eine Spur zu viel ist, selbst wenn ich dabei übersehe, wie klischeehaft das Ganze ist. Gut, es ist primär ein Kinderbuch, ich weiss, das darf man nicht vergessen. Ich nehme an da muss man halt mit Klischee und Überzeichnung bis zu einem gewissen Grad rechnen.
Was ich JKR aber nicht verzeihen kann sind die ganzen Logikfehler in diesem Kapitel. Es fängt damit an, dass die Schulleitung (nehme mal jetzt an, dass die der Absender sind) ihm, nachdem der erste Brief offenbar Harry nicht erreicht hat, weiterhin nur Briefe senden. Okay, vielleicht noch zwei, drei - aber statt es danach auf anderem Weg zu versuchen, schicken sie Dutzende, wenn nicht hunderte Briefe nach? Was für eine Papier- und Eulenverschwendung.
Dann haben wir Harry, der so blöd ist und den Brief nicht gleich öffnet, bevor die Dursleys es überhaupt merken, dass er Post bekommen hat. Okay, er ist baff und erstaunt, trotzdem, er sollte die Dursleys eigentlich gut genug kennen. Das alles wäre ja noch akzeptabel - aber es geht weiter.
Warum zum Beispiel wehrt sich Vernon so dagegen? Okay, er leidet an einer schweren und akuten Magiephobie und will nichts mit Zauberer zu tun haben - aber warum macht er dann nicht Luftsprünge wenn ein Brief ins Haus flattert, der ihm sagt, dass sie den lästigen, ungeliebten Jungen, dem immer wieder seltsame Dinge passieren wie eine Glasscheibe, die sich in Luft auflöst, aus dem Haus in ein Internat holen. So können sie ihn abschieben, müssen ihn nicht mehr füttern und anziehen und ertragen und mit ihm gehen auch alle unnatürlichen Sachen weg. Aber nein, er macht das Gegenteil. Gut, sie verlieren so einen perfekten Haussklaven und natürlich wird er dort noch in dem unnatürlichen Zeug unterrichtet - trotzdem, sie müssen sich so nicht mehr um ihn kümmern. Selbst Petunia sieht ein, dass Widerstand zwecklos ist, aber auf sie will er ja auch nicht hören.
Was uns gleich zum nächsten Punkt bringt. Ehrlich jetzt? Dutzende von Briefe strömen durch alle Schlitze und Öffnungen ins Haus, aber nicht einer schafft es in Harrys Hände??????? Völlig irrealistisch!

Zauber- und Märchenwelt in aller Liebe, aber in diesem Kapitel gibt es für mich schlicht zu viel Ungereimtheiten. Zum Glück ist es kurz genug und wir nähern uns endlich dem, was HP zum Kultbuch gemacht hat: Die zauberhafte Welt, Hermione und Ron und Hogwarts.

Trippelschritt:
Ich habe mit Deinen Kritikpunkten keinerlei Schwierigkeiten im Text. Das mag aber daran liegen, dass ich es erst gar nicht mit Logik versucht habe. Auch finde ich keine Klischees, aber das mag ein Definitionsproblem sein.

Faktum ist, dass alles stark überzeichnet ist, aber in einer skurrilen Art und nicht gemütlich wie im Märchen.
Band 1 ist für mich noch ein ganz typisches Kinderbuch mit einem einzigartigen Charme der Bilder. Und genau das geht später verloren und wird zum Fantasy-Mainstream.

Kurzes Beispiel: Die flut der Breife bauen einen Druck auf, dem Vernon nicht gewachsen ist.
Das wird Vernon also nicht geschickt ausgespielt, sondern auf seinen Druck gibt es eine größeren Gegendruck.
Das verstehen Kinder viel leichter als eine Trickserei.

Liebe Grüße
Trippelschritt

Oldlady:


Auch in diesem Kapitel sind die Dursleys wieder stark überzeichnet, aber ich finde, das passt zum Gesamtsetting, und es ist wohl auch notwendig, damit ihre skurrilen Reaktionen verständlich werden.

Und zur Logik:
Mich hat es überhaupt nicht gestört, dass die Briefe nicht bei Harry ankamen, den zauberischen Hintergrund verstehen wir Muggels eben nicht so genau.
Und außerdem sind die Briefe ein großartiges Mittel zur Erzeugung von Spannung.
Mit jedem missglückten Versuch von Zaubererseite und mit der zunehmenden Briefeflut wird diese Spannung gesteigert. Der Leser möchte mit steigender Dringlichkeit endlich wissen, was in dem Brief steht.

Dann eine Verfolgungsjagd und zuletzt eine gruslige Insel. Es folgt ein Countdown zu Harrys Geburtstag um Mitternacht. Und dann:


--- Zitat ---BUMM, BUMM. Die ganze HÜtte zitterte.
--- Ende Zitat ---

Welches Kind (und welcher einigermaßen kindliche Erwachsene) würde da nicht weiterlesen?

Von Rowling kann man wirklich lernen, was Spannungsaufbau ist.

Genauso wie von ihrer Sprache. Sinnlich, mit starken Verben:


--- Zitat ---Sie konnten die Briefe immer noch in der Küche rauschen und gegen die Wände und den Fußboden klatschen hören
--- Ende Zitat ---


--- Zitat ---Er bibberte und wälzte sich hin und her, um es sich bequemer zu machen, und sein Magen röhrte vor Hunger.
--- Ende Zitat ---


--- Zitat ---Tante Petunia fand ein paar nach Aal riechende Leintücher
--- Ende Zitat ---

Ich wäre verdammt noch mal froh, wenn ich so schreiben könnte!

Oldlady



Mooncat:
Beim ersten Lesen stört mich die Logik auch nur bedingt. Da fällt es mir höchstens auf. Je öfter ich es lese, desto mehr stört es mich allerdings.

An deinen Sätzen, die du herausgepickt hast, finde ich interessant, dass keiner davon ein Adjektiv drin hat. Ich denke, was wir an der Stelle vielleicht (nochmals?) erwähnen können ist, dass die Übersetzer hier wirklich auch gute Arbeit geleistet haben. Ich kenn zwar nur die Originale, aber meine Mutter hatte die deutsche Version und die Ausschnitte, die ich hier lese, sind nicht schlecht. Kommen aber nicht ans Original hin - wo es übrigens dann doch das eine oder andere Adjektiv hat. Zum Vergleich, mal schauen ob ich sie finde:

--- Zitat ---They could hear the letters still streaming into the room, bouncing off the walls and floor.
--- Ende Zitat ---
Plus/Minus übernommen.


--- Zitat ---He shivered and turned over, trying to get comfortable, his stomach rumbling with hunger.
--- Ende Zitat ---
Hmm, fast das Gleiche, aber ohne das ewige 'und' aus dem Deutschen. Definitiv eleganter.


--- Zitat ---Aunt Petunia found a few mouldy blankets in the second room and made up a bed for Dudley on the moth-eaten sofa.
--- Ende Zitat ---
Na ja, mouldy mit Aal riechend zu übersetzen ... Wobei ich da die Übersetzung fast besser finde. Huh.

Was den Schluss angeht:

--- Zitat ---BOOM.
The whole shack shivered and Harry sat bolt upright, staring at the door. Someone was outside, knocking to come in.
--- Ende Zitat ---
Klar, das ist ein guter Kapitelcliffie. Da will ich auch weiterlesen.
 Das davor finde ich trotzdem überlang - und eben unlogisch.

Fabian:
Für mich wird HP im 3. Kapitel nicht mehr bloß zum leidenden Opfer stilisiert. Er löst sich schon ein wenig aus dieser Unterdrückungfalle.
Gleich Anfangs fühlt er sich den Dursleys überlegen, wenn er sich innerlich über die neue Schuluniform Dudleys lustig macht und über die Affenliebe, mit der die Eltern ihren Spössling vergöttern.
Dann wird er aufmüpfig: im "Wer-überbietet-wen-beim-Sprücheklopfen"-Wettbewerb kontert er Dudley aus und gegen Vernon setzt er Widerworte.
Er ist nicht mehr so allein und nur auf die Dursleys bezogen. Sein Wahrnehmungsradius erweitert sich: Mrs. Figgs serviert ihm Kuchen und: er bekommt einen Brief - er weiß nicht von wem, er (und wir, die Leser) sind neugierig.
Vernon tritt sofort zwischen uns und das Objekt unserer Neugier und das Kapitel lebt davon, dass er mit immer abstruseren Handlungen versucht, Dudley und HP vom Baum der Erkenntnis fernzuhalten.
Überraschender Weise werden nämlich beide Kinder ausgeschlossen, nicht nur HP.
Zwischen den beiden entbrennt gleich beim ersten Brief ein comicartig inszenierter Kampf um den Platz am Schlüsselloch, und dieses comicartig übertriebene, exaltierte Agieren der Figuren vor Ort in der Szene wie die ansteigende Briefflut des für den Leser erahnbaren, den Kindern aber noch unbekannten Absenders, dieses immer weiter Überdrehen ist hier das wesentliche Gestaltungselement JKRs, mit dem der Big Bang um Mitternacht zu HPs Geburtstag vorbereitet wird.
Es kommt mir so vor, als hätte JKR hier wirklich dem Slapstickkino ihre Referenz erweisen wollen bzw. sich bei dessen Erzähltechniken bedient.

Das ist eigentlich ganz konsequent durchgehalten, wirkt aber ein wenig wie ein Stilbruch, was die bisherige Entwicklung der Charaktere angeht.

Was die Logikfehler angeht: alle Figuren spielen um des Prinzips willen in diesem Slapstick mit, obwohl sich der kluge HP angesichts des Irrsinns, den Vernon da veranstaltet doch an den Kopf fassen müsste (und lt. mooncat eigentlich irgendeinen dieser Briefe mal zu fassen kriegen müsste) bzw. sich fragen müsste: was weiß Vernon, was steckt hinter diesen Briefen, warum darf ich sie nicht in die Finger bekommen- aber wie gesagt: wer fragt im Cartoon schon nach Logik, wenns um Action geht.

Aber zu guter Letzt reichts JKR dann auch mit dem Slapstick und wenn sie zum Schluss dann die Wände zittern und die Blitze zucken und den Sturm ums Haus heulen lässt und der Donner kracht und die Felsen zu bersten scheinen und die Dramatik kaum mehr zu steigern ist und Schläge gegen die Tür donnern - dann - puh - dann hat auch JKR genug von diesem Klamauk, läßt die Luft raus, grinst uns entschuldigend an und schließt lapidar: "Da draußen war jemand und klopfte." Tja, so stell ich mir vor, ist dieses Kapitel entstanden.

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