2. Meine Familie
Mein Vater war als Rechtsanwalt und Notar erfolgreich, wenn auch mit Kaufverträgen über Kühe und ähnlichen ländlichen Lappalien nicht viel Geld zu machen war. Zuhause dagegen erholte er sich, indem er jedes Grübeln über Gerechtigkeit vermied: fingen meine beiden Schwestern plötzlich gleichzeitig zu weinen an, was öfters vorkam, war für ihn automatisch ich der Schuldige, obwohl sie in ihrem Zimmer saßen und ich in meinem, und er stampfte mit wutverzerrtem Gesicht die Treppe herauf, um mich zu schlagen. Er hätte mir wohl nicht sehr wehgetan, aber man weiß es nicht, denn ich kroch jedesmal unters Bett.
Als ich viele Jahre später am Telefon die Stimme meiner Mutter sagen hörte, dass Papa gestorben war, kam in mir sofort das Bild hoch, wie er mit wutverzerrtem Gesicht die Treppe heraufstampfte. So konnte ich seinen Tod besser verkraften.
In unserer alten Wohnung, also bis ich acht war, diente zu diesem Zweck der Teppichklopfer. Der schmerzte wenig. In der Tat litt ich nicht unter den physischen, sondern den psychischen Folgen dieser „Anwaltstätigkeiten“: ich hatte kein Vertrauen zu meinem Vater und fühlte keine Zuneigung zu ihm, außer in späteren Jahren Mitleid, wenn meine Schwestern über ihn meckerten.
Selbst als er am Vorabend meines Starts ins Studentenleben, also der Abfahrt nach Heidelberg, zu mir sagte, es sei nun an der Zeit, mit mir ein Wort von Mann zu Mann zu reden, lehnte ich ab. Das war natürlich unvernünftig. Das einzige Mal, dass einer unserer Eltern einem von uns Kindern einen guten Rat erteilen wollte, hätte ich zugreifen sollen. Ich tröste mich später damit, dass er mir wohl nur sagen wollte, ich solle bei Frauen aufpassen, keiner ein Kind zu machen. Eine solche Situation war ohnehin für mich völlig utopisch, und mit diesem Argument begründete ich auch meine Ablehnung seines Angebots.
Wenn er mir dagegen hatte sagen wollen, ich solle nicht auf das Mädchen meiner Träume warten, sondern jede Gelegenheit beim Schopf ergreifen, um dann, wenn es soweit war, bereits ein erfahrener Liebhaber zu sein – ja, dann müsste ich meine Ablehnung bitter bereuen. Aber ich glaube nicht, dass er mir das sagen wollte. „Carpe diem“ ist nicht sehr norddeutsch.
Die Bayern, die feiern! Bei Bayerinnen habe ich mich immer wohlgefühlt. (Nach den Regeln der Grammatik darf ab 2 Personen die Mehrzahl verwendet werden.) Auch die anderen Süddeutschen und die Österreicher feiern oft. Eine Sexualforscherin, die ich persönlich kennenlernte, postuliert, dass es in den Alpentälern der Kirche nicht gelungen sei, den natürlichen Sexualdrang auszutreiben, und zitiert dazu (obwohl sie nicht auf deutsch schreibt): „Auf der Alm, da gibt’s koa Sünd‘“.
In Schleswig dagegen: Karneval gibt’s nicht, Halloween war damals noch nicht „erfunden“; das einzige Volksfest in zwölf Monaten war das dreitägige Schützenfest, dessen Bässe von der Schützenkoppel zu uns hinüberwummerten.
Es mag mit der Religion zusammenhängen: auch die katholischen Rheinländer sind ja für Fröhlichkeit bekannt. Im evangelischen Hamburg dagegen blaffte mich ein Bürger an, als ich bei Rot über die Straße ging. Wenigstens an Silvester erlebte ich dort Ausgelassenheit auf den Straßen.
Papa kam immer mittags zum Essen nach Hause, legte sich dann aufs Sofa und las den SPIEGEL oder ein Buch und fuhr gegen 15 Uhr ins Büro zurück. Es waren zwar nur fünf Minuten zu Fuß, durch die schöne Allee mit Blick auf die Schlei, aber das Gehen vermied er. Er brauchte ja auch den Wagen für seine Fahrten zu den Bauern, und dann war da sein amputierter Fuß...
Mein Vater arbeitete viel im Garten, und es missfiel ihm, dass ich ihm nur selten dabei helfen wollte, aber ich hatte meine Gründe, denn ich musste dann immer umgraben, und der Vorbesitzer hatte tonnenweise Lehm aufschütten lassen. Das bedeutete: der Boden war entweder zäh wie Leim und an jedem Schuh klebte kiloweise Lehm, oder, bei Trockenheit, steinhart.
Er werkelte auch oft im selbstgebauten Hobbyraum. Da hätte ich vieles lernen können, was mich für Mädchen zumindest gelegentlich hätte interessant machen können. Aber, wie gesagt, ich war nicht gern mit ihm zusammen, und er hielt mich auch für unfähig. Selbst als ich für den Werkunterricht eine „Spielmaschine“ entwarf, aussägte, zusammenleimte und lackierte, brachte ihn dies nicht von seiner Meinung ab.
Er sagte immer, er sei viersprachig aufgewachsen: hochdeutsch, plattdeutsch, hochdänisch und plattdänisch. Er war Sohn des Dorfschullehrers in einem Nest an der Grenze mit Namen Gottrupel, der merkwürdigerweise à la française auf der letzten Silbe betont wird. Die Liebe zum Lande liegt auch mir im Blut.
Er aß und trank gern, betrank sich aber nie, auch wenn ich ihn jeden Abend mehrmals die Kellertreppe hinuntersteigen hörte, um sich noch eine Flasche Bier zu holen. Zu seinem Geburtstag am 2. Juli gab es Erbsen und Wurzeln (Karotten) und Schinken und zum Nachtisch die ersten Erdbeeren aus dem Garten mit Milch. Wenn meine Mutter Heringe briet oder Pfannkuchen buk (die wir meist mit Stachelbeerkompott aßen, eine Köstlichkeit, die nie ein Italiener wird genießen können), durften wir so viele essen, wie wir wollten, und mein Vater aß viele.
Im Krieg zeichnete er sich in Frankreich durch die Rettung einiger Kameraden aus. In Russland ging er auf einen Botengang, und als er zurückkam, waren alle seine Kameraden tot. Später musste ihm wegen eines Granatsplitters ein Unterschenkel amputiert werden, und der Krieg war für ihn zu Ende.
Als Kriegsversehrtem stand ihm jedes Jahr ein kostenloser Kuraufenthalt zu. Den Ort konnte er frei wählen, und er wählte fast immer die am weitesten entfernten, wie Bad Wörishofen im Allgäu. Wenn er zurückkam, brachte er uns immer etwas mit: jedem eine Tafel Kinderschokolade, ein Luxus für uns, weil sie 1,30 DM kostete (0,65 Euro). Mir brachte er außerdem Kiloware mit. Das war ein Sack voll Briefmarken, die noch am Papier hafteten. Man sagte, dass auch wertvolle darunter sein konnten, bei mir aber nie.
Auf seinen alten Fotos sieht man einen ausgesprochen gutaussehenden Mann, und so fand er trotz Beinprothese eine intelligente, neun Jahre jüngere Frau.
Meine Mutter hatte eine Schwester, die älter als sie war und auch stärker und dies ausnutzte. Mutti lernte ein bisschen Klavier spielen, doch das Instrument verfiel zusehends und landete wohl im Müll. Später reichte es nur zu einer Mini-Heimorgel, auf der sie verständlicherweise kaum spielte, fast nur zu Weihnachten. Auch ihre Sprachbegabung – sie hatte ein gutes Abitur gemacht – und sonstigen Interessen blieben ungenutzt; nach getaner Hausarbeit sah sie fern, während mein Vater immerhin auch Bücher über Geschichte las.
Das Schlimmste für sie war, dass mein Vater, der kurz nach der Heirat eine Praxis eröffnen sollte, die Gelegenheit erhielt, die eines gerade verstorbenen Kollegen zu übernehmen, samt dessen Mandanten... aber dafür mussten sie von Flensburg nach Schleswig ziehen.
Meine Mutter hatte immer in Flensburg gewohnt, und all ihre Freunde und Bekannten und Verwandten wohnten dort. An einen Zweitwagen war nicht zu denken; außerdem hatte sie bei der ersten Fahrt nach dem Führerschein eine Mauer gerammt und seitdem kein Steuer mehr angerührt. Die Verkehrsverbindungen sind schlecht: beide Bahnhöfe liegen kurioserweise weitab vom Zentrum, und der Bus braucht für die 35 km über eine Stunde.
So vergingen für sie einsame Jahre; erst als wir Kinder aus dem Haus waren, trat sie in einen Chor ein und fand dort Freundinnen. Sie machte dann auch beim Sorgentelefon mit (keine leichte Aufgabe) und half einem Waisenjungen bei den Hausaufgaben; er aß bei uns zu Weihnachten und bei anderen Gelegenheiten.
Schon bevor mein Vater starb, stand es für sie fest, dass sie das Haus verkaufen und sich in Flensburg eine Wohnung nehmen würde, in ihrem vertrauten Stadtteil.
Mit meinen beiden Schwestern verstand und verstehe ich mich gut (auch als Kind, trotz der erwähnten Wein-Dramen), besonders mit der jüngeren: wir verbringen jedes Jahr mehrere Wochen zusammen. Sie ist vier Jahre jünger als ich und arbeitet als Berufsberaterin; die andere ist zwei Jahre älter als sie und verdient ihr Brot bei der Post; ihr Mann ist Informatiker; bei ihnen, in Hamburg, bleibe ich jeweils übers Wochenende. Wenn ich in diesem Buch „meine Schwester“ schreibe, ist immer die jüngere gemeint.
Meine Schwester überraschte mich neulich, als sie angesichts junger Kaninchen ausrief: „Die süßen Ninges!“ Ich wusste gar nicht mehr, dass wir die als Kleinkinder so nannten. Gewärtig ist mir noch „Mule“ für Katze (eine Erfindung meines Vaters, mit norddeutsch kurzangebundenem „u“) und meine eigene Kreation „Tis“ für Tischset (weil auf meinem „Teddys“ zu sehen waren, ich das Wort aber noch nicht aussprechen konnte), die wir bis heute verwenden. Meine Mutter spricht eine Art Fundamentalisten-Norddeutsch: z. B. sagt sie für „werktags“ „teechlichentachs“.
Als wir noch klein waren, ließ Papa uns jeden Sonntagmorgen zu den Klängen des „Fredericus Rex“-Marsches um den Couchtisch herum marschieren. Ich versuchte öfters, meine Schwestern dafür zu gewinnen, mich mit einem „Papierschnippel zu gillen“, d. h. zu kitzeln oder vielmehr zu streicheln. Die nächste Gelegenheit zu etwas Derartigem sollte ich erst viele Jahre später haben... Sah meine Mutter Zärtlichkeit, sprach sie von „Affenliebe“ . Dieser Ausdruck war im 19. Jahrhundert verbreitet... Meine Schwestern konnten sich bei Papa Streicheleinheiten holen, ich als Junge durfte das nicht. Als Ersatz dafür kochte mir Mutti immer Sachen, die ich gerne mochte, um mir zu zeigen, dass sie mich doch irgendwie lieb hatte.
Die Schwester meiner Mutter heiratete einen Möbelhändler. Mit ihrem Sohn spielte ich jedesmal Gesellschaftsspiele, z. B. „Öl für uns alle“. Sie wohnten lange Zeit in einem Altbau mit Gemeinschaftsklo auf halber Treppe, weil es von dort nicht weit zum Geschäft war; schließlich bezogen sie doch ein Reihenhaus im Grünen. Meine Eltern sahen auf sie herab, weil in deren elegantem Wohnzimmer Bücher von Konsalik, Simmel & Co. überwogen, während bei uns Goethe, Storm, Dostojewski usw. prangten. Dafür hatten sie viel früher als wir einen Farbfernseher. Ich litt sehr darunter, dass wir viele Jahre lang keinen hatten, besonders wenn man bei einem Fußballspiel die Mannschaften kaum auseinanderhalten konnte.
Einmal ging mein Onkel mit seinem Sohn und mir und Papa in den Heizungskeller und erklärte seinem Sprössling, wie alles funktionierte. „Das ist ein Vater!“ dachte ich mir. Aber ich will ihn nicht idealisieren: in einem eleganten Restaurant griff er, kaum dass sein Teller vor ihm stand, ohne probiert zu haben, zum Salzfass und salzte ausgiebig.
Von den Geschwistern meines Vaters war einer Gärtner, der meinem Vater immer gute Tipps gab, und einer Hausmeister an einer Schule; mit seinen Kindern spielten wir Monopoly. Papas Schwesterchen heiratete einen Mann, der für eine Elektronikfirma um die Welt reiste. So konnte er mir, als ich nach Singapur sollte, sagen, dass ich dort unbedenklich Leitungswasser trinken konnte. Als nach einer Nachtfahrt im Bus in Südfrankreich mir der Rasierapparat zu Boden fiel und der Mann im Schleswiger Kaufhaus sagte, da sei nichts mehr zu machen, reparierte mein Onkel ihn im Handumdrehen.
Oma Schmurr starb, als wir noch klein waren, wir mussten unseren Urlaub in Dänemark deswegen abbrechen. Opa Schmurr sagte immer: „Der Martinus, der Martinus, der ist ein kleiner Pfiffikus!“ Ansonsten sagte er wenig. Er fuhr einen winzigen Goggo und rauchte Overstolz ohne Filter. Er schenkte mir immer Zartbitterschokolade, die ich nicht mag.