20 April 2024, 11:46:17

Autor Thema: Alternative Erzählstrukturen  (Gelesen 2331 mal)

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Wildfee

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Re: Alternative Erzählstrukturen
« Antwort #15 am: 17 June 2023, 15:06:18 »
Ich denke/vermute, dass es hilfreich für die Diskussion ist, die Definitionen bestimmter Begriffe festzulegen ;-)

Wie definiert sich klassische Phantastik? Oder Retro-SF?
Ist klassische Phantastik auch progressiv? Wenn ja, warum?

Ich persönlich bezeichne Phantastik nicht per se als klassisch oder retro, weil ich meine, dass Phantastik, insbesondere SF, schon immer über den temporären Status Quo hinweg ging. Ja, die Storys waren natürlich beeinflusst von den jeweiligen Gesellschaftsströmungen und Erzählweisen, gar keine Frage. Aber es gab auch die Ausreisser, die herausragten, aneckten, nicht konform waren. Für mein Verständnis spricht nichts dagegen, diese Storys als progressiv zu bezeichnen, auch wenn sie schon mehrere Jahrzehnte alt sind.


merin

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Re: Alternative Erzählstrukturen
« Antwort #16 am: 17 June 2023, 16:30:07 »
Da kann ich vollkommen mitgehen. Sowohl bei der Idee, dass eine Definition hilfreich ist, als auch was die vorgeschlagenen Definitionen angeht. Für heißt Progressivität ein Infragestellen des Status Quo in Richtung Emanzipation aller Menschen und Gleichwürdigkeit.
Ich röste zunächst immer, ohne andere Röstungen zur Kenntnis zu nehmen. Dabei ist mein Ansatz der, eine qualifizierte Lesermeinung abzugeben, Euch also zu verraten, wie der Text auf mich wirkt und wie es mir beim Lesen geht und was ich gern anders hätte.

diffusSchall

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Re: Alternative Erzählstrukturen
« Antwort #17 am: 18 June 2023, 11:37:06 »
Frank, du drehst mir die Worte im Munde um und das an so vielen Stellen. Was ist los?

Merin, ich spiele den Ball mal zurück:
Jmd das Wort im Munde zu verdrehen, bedingt Absicht. Du solltest mich eigentlich besser kennen, als dass das dein erster Schluss daraus ist.
Und so vielen Stellen sind genau zwei: zur Thematik „progressiv Schreiben“ und „konservative Literatur“.
Merin, warum so aggressiv? Was ist los?

So ganz klar sehe ich nicht, woher unser Problem rührt. Ich vermute schlicht Missverständnisse.
Ich bin auch Wildfee, dass ein größerer Teil der Irritationen vermutlich durch unterschiedlich definierte Begrifflichkeiten herrühren wird.

Zum Thema Progressivität ein paar Gedanken, die meine Sichtweise hoffentlich etwas besser beleuchten:
„Progressiv“ ist für mich keine Gattung, sondern ein Qualitätsmerkmal.
Ähnlich sehe ich den Begriff „Kunst“.
Ein kreatives Werk wird nicht automatisch Kunst, nur weil es kreativ ist. Da gehört eine entsprechend schwer wiegende Komponente dazu. Das kann ein inhaltlicher Unterbau sein, dass kann eine meisterhafte Ausführung sein, das kann Progressivität sein.
Ich finde, es riecht immer seltsam, wenn ein Schaffender selbst von seinem Werk behauptet, dass es Kunst sei. Das zu beurteilen bedingt Objektivität, dazu ist er in der Regel zu nah am eigenen Werk. Das beurteilen Kunstkritiker und die Allgemeinheit besser, in den allermeisten Fällen.
Genau so sehe ich Progressivität, im speziellen das progressive Schreiben:
Gesellschaftskritisch zu Schreiben macht einen Text noch nicht progressiv. Ob ein Text der aktuelle Thematiken aufgreift tatsächlich progressiv ist, dass können meiner Meinung nach Außenstehende besser beurteilen, als der Autor selbst, der nach meinem Empfinden auch hier nicht die ideale objektive Instanz zur Beurteilung ist.
Daher mein Standpunkt, dass ein Autor die Absicht bekunden kann progressiv zu schreiben. Mit der Aussage, dass er das tatsächlich tut, sollte er sich m.M. nach zurückhalten.

Mit diesem Hintergrund habe ich dich gefragt, was deine Zielsetzung ist: gesellschaftskritisch zu schreiben oder progressiv zu schreiben. Einfach um mehr darüber zu erfahren, wie du denkst, denn dass interessiert mich.
Das empfinde ich als legitim und hat nichts damit zu tun jemanden das Wort zu verdrehen.

Zum 2. Punkt:

Zitat
Du-u, Fra-ank ... das habe ich weder gemeint noch geschrieben. Ich schrieb, dass ich den Backlash schwer auszuhalten finde. Das ist schon ein sehr wesentlicher Unterschied.

Es geht um deinen Satz:

Dass es zwischendrin so einen Backlash gibt und so eine große Auswahl an konservativer und gar rechter SF, finde ich auch schwer auszuhalten.

Daraus lese ich drei Aussagen:
Es ist für dich schwer auszuhalten, dass es so einen Backlash gibt.
Es ist für dich schwer auszuhalten, dass es eine große Auswahl konservativer SF gibt.
Es ist für dich schwer auszuhalten, dass es eine große Auswahl rechter SF gibt.

Ich reibe mich an der zweiten Aussage.
Den Begriff des konservativen Schreibens sehe ich als Gegenpart zum progressiven Schreiben.
Darunter verstehe ich das Aufgreifen von klassischen SF-Themen wie Exploration, Eskapismus, Erstkontakte usw. usf. ohne den vordergründigen Anspruch, aktuelle Thematiken aufzugreifen und Zukunftslösungen anzubieten. Den bewerten Ansatz eines jeden Autors, der in erster Linie unterhalten will. Da sehe ich mich eher als Autor, als beim progressiven Schreiben. Das habe ich weiter oben auch schon ausgeführt und mich als in diesem Sinne konservativen Autor dargestellt.
Der Begriff konservativ wird hier nicht als Gesinnung oder ideologisch verwendet. Das wäre völlig irreführend. Auch hier: es sollte mich wundern, wenn du mich in dieser Ecke siehst. Nach all den tollen, menschlichen Diskussionen, die wir schon hinter uns haben.
Ich fürchte fast, gerade in Hinblick darauf, dass du in deinem Satz konservative SF neben Rechter SF stellst, dass du genau das tust: Konservativ nur aus ideologischer Sicht betrachtet.
Dann wäre mir klar, warum uns hier irritieren.

Bitte frage mich doch erstmal wertfrei, warum ich bestimmte Fragen stelle, wenn sie dir offensiv, fehlgeleitet oder sonst wie ungebührlich erscheinen. Ich habe den Eindruck, dass unsere Wertesystem in weiten Teilen sehr nah beieinander liegen.
Ich bin weder der Mensch, der anderen über den Mund fährt, noch versucht, ihnen die Worte im diesem zu verdrehen und auch niemand, der anderen seine Sicht aufzwingen muss.
Ich versuche zu verstehen und zu lernen, im Rahmen meiner Möglichkeiten und anderen meinen Standpunkt und meine Blick auf die Welt zu vermitteln.
Mehr nicht.

Liebe Grüße - Frank
« Letzte Änderung: 18 June 2023, 11:40:04 von diffusSchall »
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Re: Alternative Erzählstrukturen
« Antwort #18 am: 18 June 2023, 12:49:00 »
Lieber Frank,

danke für die Erklärungen. Dazu kann ich nur erklären, dass meine Fragen wertfrei gemeint waren, ich habe versucht, durch Humor den Ton, den ich als angespannt wahrnahm, etwas aufzulockern. Offenbar ist das nicht gelungen und es kam als Angriff rüber. Das tut mir leid, so war es nicht gemeint.

Zitat
„Progressiv“ ist für mich keine Gattung, sondern ein Qualitätsmerkmal.

Achso. Ich dachte, da wir uns hier auf das Manifest zu progressiver Phantastik beziehen, dass es um das Subgenre geht. Da kann es natürlich auch schwierig sein, den eigenen Text einzuordnen, eben, weil der Abstand fehlt. Wenn es dir um das Qualitätsmerkmal geht, dann gebe ich dir recht: Das kann ich mir selbst nicht verleihen.

Zitat
Mit diesem Hintergrund habe ich dich gefragt, was deine Zielsetzung ist: gesellschaftskritisch zu schreiben oder progressiv zu schreiben. Einfach um mehr darüber zu erfahren, wie du denkst, denn dass interessiert mich.
Das empfinde ich als legitim und hat nichts damit zu tun jemanden das Wort zu verdrehen.

Ich dachte, darauf hätte ich geantwortet: Beides ist für mich nicht trennbar.

Zitat
Daraus lese ich drei Aussagen:
Es ist für dich schwer auszuhalten, dass es so einen Backlash gibt.
Es ist für dich schwer auszuhalten, dass es eine große Auswahl konservativer SF gibt.
Es ist für dich schwer auszuhalten, dass es eine große Auswahl rechter SF gibt.

Ich würde eher sagen: Der Backlash ist schwer auszuhalten, er schlägt sich in einer großen Auswahl konservativer und rechter (und damit aktiv diskriminierender) SF wider. Ich denke, dass die Aushaltbarkeit dessen etwas mit dem eigenen Standpunkt zu tun hat. SF, die sexistisch und rassistisch diskriminiert, finde ich wirklich schwer auszuhalten (so ich die Diskriminierung sehe). Das eigentlich Schwierige sind aber nicht diese Bücher, sondern die real vorhandene Diskriminierung, die die Bücher "nur" fortschreiben. Insofern sollte auch klar sein, dass es mir um konservative deutsche Wertsysteme geht, um reale Machtstrukturen, um den Status Quo.

Zitat
Den Begriff des konservativen Schreibens sehe ich als Gegenpart zum progressiven Schreiben.

Ich auch. Nur: Wenn progressiv bedeutet, sich aktuellen -ismen klar entgegen zu stellen, dann hieße der Gegenpart, sie zu befüttern. Und das finde ich das schwierig. Da würde ich dich als Autor auch nicht einsortieren.

Zitat
Darunter verstehe ich das Aufgreifen von klassischen SF-Themen wie Exploration, Eskapismus, Erstkontakte usw. usf. ohne den vordergründigen Anspruch, aktuelle Thematiken aufzugreifen und Zukunftslösungen anzubieten. Den bewerten Ansatz eines jeden Autors, der in erster Linie unterhalten will. Da sehe ich mich eher als Autor, als beim progressiven Schreiben. Das habe ich weiter oben auch schon ausgeführt und mich als in diesem Sinne konservativen Autor dargestellt.

Die spannende Frage ist: Was heißt das für dich in Bezug auf vorhandene Diskriminierungen und deine eigene privilegierte Position? Wir schreiben ja beide über diese klassischen SF-Themen. Im "Geflecht" geht es um Exploration, um Erstkontakte und man kann das Buch super nutzen, um dem Eskapismus zu frönen. Es spricht ja auch gar nichts dagegen, erstmal "nur" unterhalten zu wollen. Die Frage ist: Finde ich es okay, Diskriminierungen dem unterzuordnen oder versuche ich mit allen mir zur Verfügung stehenden Mitteln, sie zu vermeiden? Da würde mich interessieren, wie du das für dich siehst.

Und um den Bogen mal wieder zurück zum Thema Erzählstrukturen zu schlagen: Du hast ja in deinen "Frauen von Berberath" klassische Erzählstrukturen gemieden. Genau darum ist das für mich auch keine konservative SF: Du hast keine klassische Heldenreise, keine 3-Akt-Struktur, keine einsamen Held*innen, die sich durchschlagen.

Ich selbst lehne mich sehr an klassische Spannungsbögen an, weil ich diese leicht zugänglich finde; einen guten Weg, um die mir wichtigen Themen zu transportieren und eine (hoffentlich gute) Geschichte zu erzählen. Gleichzeitig gibt es Traditionen, denen ich mich widersetze: Ich mag nicht immer weiter zuspitzen. Ich mag keine Einzelkämpfer*innen ins Zentrum setzen. Das heißt, ich verfolge dann doch die klassischen Strukturen nicht ganz, entferne mich aber auch nicht so weit von ihnen, wie du beispielsweise in Berberath.
Ich röste zunächst immer, ohne andere Röstungen zur Kenntnis zu nehmen. Dabei ist mein Ansatz der, eine qualifizierte Lesermeinung abzugeben, Euch also zu verraten, wie der Text auf mich wirkt und wie es mir beim Lesen geht und was ich gern anders hätte.

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Re: Alternative Erzählstrukturen
« Antwort #19 am: 18 June 2023, 15:15:03 »
Achso. Ich dachte, da wir uns hier auf das Manifest zu progressiver Phantastik beziehen, dass es um das Subgenre geht.

Ich verstehe das Manifest nicht als Umriss eines neuen Subgenres. Dazu ist die Definition der Progressivität in dem Artikel viel zu umfassend formuliert. Es betrifft das gesamte Genre der SF und grenzt nicht einen eigenen Teil ab. Ich verstehe den Artikel als ein Plädoyer dafür einen allgemeinen, in allen Belangen (dies wird betont!) progressiven Schreibstil auch und gerade in der SF anzustreben.
Dass "Progressive SF" als Subgenre behandelt wird, halte ich für einen Fehler. Genau deshalb empfinde ich den Begriff, wie oben schon erwähnt, für ein Subgenre sehr unglücklich gewählt. Es würde auch niemand auf die Idee kommen "kreatives Schreiben" als Genrebegriff zu etablieren (hoffentlich).

Ein Beispiel aus der Musik. Dort gibt es das Genre "Elektronische Musik". Viele moderne Musiker fühlen sich berufen, sich diesem Genre alleine durch die Namensgebung zuzuordnen. Dabei bezeichnet dieses Genre eine Bewegung der Musique Concrete, deren Hochzeit in den fünfziger Jahren war. Einer ihrer wichtigsten Vertreter war Karl-Heinz Stockhausen.
Das sorgt regelmäßig für Verwirrung und auch Streit unter den Vertretern der einzelnen Fraktionen und es wird jede Menge Energie sinnlos verbrannt. Aber hier ist der Begriff nun einmal historisch bedingt. Er war weit für der modernen elektronischen Musik schon etabliert.

Bei der Progressiven SF ist das anders. Das Subgenre (ich lasse mich der Einfachheit halber an dieser Stelle einmal darauf ein) ist neu, entwickelt sich noch. Ein neuer Begriff wird jetzt, in diesem Augenblick geprägt. Und ich sehe, dass hier ein alter Fehler erneut gemacht wird. Und wieder wird das zu endlosen Debatten und Irritationen führen. Das ist sehr bedauerlich.

Zitat
Zitat
Mit diesem Hintergrund habe ich dich gefragt, was deine Zielsetzung ist
Ich dachte, darauf hätte ich geantwortet: Beides ist für mich nicht trennbar.

So klar war das tatsächlich bei mir nicht angekommen.
Mit dem Hintergrund, dass du Progressive SF als Genre auffasst, funktioniert das natürlich.
Mit der generalisierten Auffassung des Begriffes Progressiv nicht. Da liegt wohl unser Missverständnis.

Zitat
Zitat
Den Begriff des konservativen Schreibens sehe ich als Gegenpart zum progressiven Schreiben.
Ich auch. Nur: Wenn progressiv bedeutet, sich aktuellen -ismen klar entgegen zu stellen, dann hieße der Gegenpart, sie zu befüttern. Und das finde ich das schwierig. Da würde ich dich als Autor auch nicht einsortieren.

Wo würdest du mich denn einsortieren? Das würde mich wirklich interessieren.

Wenn du es so gegenüberstellst, dann muss ich meine Sicht in ihrer obigen Formulierung revidieren. Dann sehe ich konservatives Schreiben nicht als direkten Gegenpart zum progressiven Schreiben. Weil dem konservativen Schreiben der Gedanke zur Veränderung fehlt. Ich möchte betonen: im Guten, wie im Schlechten. Wenn es um die Frage des Aktivismus geht, dann ist die rechte SF wohl eher der Gegenpart zum progressiven Schreiben, nach dieser Definition.

Zitat
Die spannende Frage ist: Was heißt das für dich in Bezug auf vorhandene Diskriminierungen und deine eigene privilegierte Position?

Ich versuche einmal den Umgang mit Diskriminierungen im Rahmen eines konservativen Literaturumgangs aus meiner Sicht darzustellen. Das ist schwierig, weil eine reine Bauchgeschichte und ich erhebe nicht den Anspruch an dieser Stelle umfassend und erschöpfend antworten zu können:
Mögliche Darstellung von Diskriminierung, ohne zwingende zentrale Auflösung der Situation in eine bestimmte Richtung.
Keine zentrale Thematisierung von Diskriminierung.
Gemäßigter, nicht totalitärer Umgang mit Diskriminierung.
Keine zentrale Wertung der Diskrimierung. (Ich beziehe dies auf den Tenor der Erzählung. Im Rahmen einzelner Charakterschilderungen kann extremer Umgang mit, für und wider Diskrimierung durchaus stattfinden. Dann muss aber klar sein, dass dies im Rahmen der Charakterdarstellung stattfindet und nicht das Motiv des Textes und die gemeine Aussage des Autors darstellt.)

Definiere bitte meine privilegierte Position.
Da verstehe ich nicht, was damit konkret gemeint ist. Daher kann ich dazu auch nicht Stellung beziehen.

Zitat
"Finde ich es okay, Diskriminierungen dem unterzuordnen oder versuche ich mit allen mir zur Verfügung stehenden Mitteln, sie zu vermeiden? Da würde mich interessieren, wie du das für dich siehst."

Schreiben bedeutet Konflikte zu bearbeiten. Geschichten spielen immer in irgendeiner Form von Gefüge. Es wird immer eine starke und eine schwache Position geben, immer ein Gefälle in irgendeiner Form. Diskriminierung ist mit diesem Hintergrund unausweichlich. Es sei denn, ich beschreibe eine perfekte Gesellschaft, aber das dürfte keine spannende Geschichte geben.
Schilderung von Diskriminierung ist eine Notwendigkeit keine Unterordnung. Wenn ich keine Diskriminierung beschreiben darf, dann möchte ich nicht mehr schreiben. Dann kann ich keine dynamischen, lebensechten Charaktere entwickeln und beschreiben.
Die Frage ist nicht ob, sondern in welcher Form.
Ich finde es nicht nur okay, sondern auch wichtig, Diskriminierung zu beschreiben. Sie ist Teil unserer Gesellschaft. Sie wird Teil einer zukünftigen Gesellschaft sein.

Wie ich schon sagte, schreibe ich in erster Linie zur Unterhaltung, nicht um Themen ins Licht zu bringen, die ich diskutiert sehen möchte. Ich bin kein betont (gesellschafts)-politischer Mensch, gehöre da gefühlt zum Mainstream. Trotzdem greife ich auch kontroverse und/oder schwierige Themen auf, wenn sie mich persönlich interessieren und nutze diese für meine Geschichten.
Weil ich der Meinung bin, dass sie zu uns Menschen gehören.
Aber natürlich auch, weil sie Spannung und Würze versprechen, das möchte ich gar nicht von der Hand weisen.
Auch hier: die Frage ist nicht ob, sondern in welcher Form.

Ein konkretes Beispiel:
Ich habe in meinem aktuellen Romanprojekt einen verhaltensauffälligen Charakter, geformt nach dem Asperger-Autismus-Spektrum. Ich halte es für völlig okay, dies im Rahmen eines Unterhaltungsromans zu tun und auch Diskriminierung in diesem Rahmen zu zeigen. Menschen, die zu diesem Spektrum gehören, sind Teil unserer Welt. Für mich stellt sich gar nicht die Frage, ob ich das darf. Ich habe aber die Pflicht mir darüber klar zu werden in welcher Form ich das tue.
Für mich hieß das im ersten Schritt mir überhaupt klar zu werden, ob ich der Darstellung eines solchen Charakters nach meinem Wertesystem gerecht werden kann. Ich bin Schreibanfänger, das birgt die Gefahr der Fahrlässigkeit. Ich habe aber auch Erfahrung im Umgang mit Autismus sammeln dürfen, habe vor Jahren einen Autisten für eine kurze Zeit mitbetreut. Es ist ein Stück weit also auch durchaus eines meiner Themen.
Ich habe es als meine Pflicht gesehen, mich zu informieren, zu recherchieren. Ich habe Fachliteratur gelesen.
Ich habe mich bemüht und eine Testleserin gefunden, die selbst Autistin ist.

Ich weiß nicht, ob das ausreichend ist. Ich habe für mich selbst diesen Punkt fest machen müssen. Aber ich stehe zu meiner Vorgehensweise, ich stehe zum Ergebnis und ich stehe dazu, dass ich das tue. Im Rahmen von Unterhaltung! Und, ja, ich bin absolut der Meinung, dass das erlaubt sein sollte. Letzten Endes kommt es aber auf die Form an. Ob ich gut mit dem Charakter umgehe, werde ich dann hoffentlich noch in der Breite erfahren.

Liebe Grüße - Frank
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diffusSchall

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Re: Alternative Erzählstrukturen
« Antwort #20 am: 18 June 2023, 15:26:30 »
Zitat
Und um den Bogen mal wieder zurück zum Thema Erzählstrukturen zu schlagen: Du hast ja in deinen "Frauen von Berberath" klassische Erzählstrukturen gemieden. Genau darum ist das für mich auch keine konservative SF: Du hast keine klassische Heldenreise, keine 3-Akt-Struktur, keine einsamen Held*innen, die sich durchschlagen.

Wo würdest du das denn einsortieren?
Ich habe mich konkret an einem Jungklassiker (VÖ 2005) der deutschen SF orientiert:
Andreas Eschbachs "Die Haarteppichknüpfer".
Eschbach ist jetzt nicht gerade dafür bekannt, progressiv zu schreiben.   ;)

Deine Gedanken zu Erzählen und Träumen leuchten mir ein: an beidem ist das Unbewusste beteiligt. Allerdings habe ich es so verstanden, dass wir hier über Erzählstrukturen sprechen. Und rein strukturell finde ich beide Arten des Erzählens doch sehr verschieden.

Eine sehr konkrete Aussage.
Inwiefern bist du dir denn überhaupt über die Erzählstruktur deiner Träume bewusst?
Ich könnte dazu keine valide Aussage machen. Ich bin kein Mensch der ausgeprägt luzide träumt. Insofern bin ich mir auch nicht der Struktur meiner Träume im Klaren.

Cheers - Frank
« Letzte Änderung: 18 June 2023, 15:31:16 von diffusSchall »
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Re: Alternative Erzählstrukturen
« Antwort #21 am: 18 June 2023, 19:13:41 »
Mein Gefühl ist, wir reden immer noch aneinander vorbei.

Zitat
Ich verstehe das Manifest nicht als Umriss eines neuen Subgenres. Dazu ist die Definition der Progressivität in dem Artikel viel zu umfassend formuliert. Es betrifft das gesamte Genre der SF und grenzt nicht einen eigenen Teil ab. Ich verstehe den Artikel als ein Plädoyer dafür einen allgemeinen, in allen Belangen (dies wird betont!) progressiven Schreibstil auch und gerade in der SF anzustreben.

Ich auch. :biggrin: Nur: So lange, wie dieser Aufruf nicht befolgt wird, bildet sich eine Subgruppe von Autor*innen heraus, die versuchen, ihn zu befolgen. Und dann entsteht ein Subgenre. Das das natürlich schwierig ist, da stimme ich dir zu, allerdings halte ich es für illusorisch, dass Progressivität das gesamte Genre SF durchdringt.
Und: Allerdings verstehe ich dann tatsächlich nicht, wie du meine Aussage verstehst. :gruebel:

Dich einsortieren? Ich weigere mich! :cheer:

Zitat
Wenn du es so gegenüberstellst, dann muss ich meine Sicht in ihrer obigen Formulierung revidieren. Dann sehe ich konservatives Schreiben nicht als direkten Gegenpart zum progressiven Schreiben. Weil dem konservativen Schreiben der Gedanke zur Veränderung fehlt. Ich möchte betonen: im Guten, wie im Schlechten.

Hmm. Konservativ heißt doch erstmal, dass man den Status Quo beibehalten möchte. Man möchte eben alles so lassen, wie es ist. Das hieße also für SF: Ich mache mir über die Zukunft Gedanken, aber so, dass es keine kritische Sichtweise auf die Jetztzeit impliziert. Sind wir uns da einig? Wenn ja, verstehe ich tatsächlich nicht, wie du dich darin wiederfindest.

Zitat
Mögliche Darstellung von Diskriminierung, ohne zwingende zentrale Auflösung der Situation in eine bestimmte Richtung.
Keine zentrale Thematisierung von Diskriminierung.
Gemäßigter, nicht totalitärer Umgang mit Diskriminierung.
Keine zentrale Wertung der Diskrimierung. (Ich beziehe dies auf den Tenor der Erzählung. Im Rahmen einzelner Charakterschilderungen kann extremer Umgang mit, für und wider Diskrimierung durchaus stattfinden. Dann muss aber klar sein, dass dies im Rahmen der Charakterdarstellung stattfindet und nicht das Motiv des Textes und die gemeine Aussage des Autors darstellt.)

Damit kann ich tatsächlich wenig anfangen. Einfach weil das meinem Erleben so sehr widerspricht, dass ich nicht recht nachvollziehen kann, wie du darauf kommst. Möglicherweise hängt das damit zusammen:

Zitat
Definiere bitte meine privilegierte Position.
Da verstehe ich nicht, was damit konkret gemeint ist. Daher kann ich dazu auch nicht Stellung beziehen.

Ich weiß wenig über dich. Auf deiner Webseite verrätst du nicht viel, auch dein Buch verrät nicht so viel und die Fotos, die ich im Netz von dir finde, scheinen alt und möglicherweise hast du Namensvettern. Aber mir scheint, du bist weiß, cis-männlich, heterosexuell, nicht behindert und in Deutschland geboren. Somit gehörst du also zu den Menschen auf dieser Welt, die am wenigsten von Diskriminierung betroffen sind. Ehrlich gesagt fiele es mir schwer, die Stelle zu benennen, an der du nicht privilegiert, sondern von Diskriminierung betroffen bist. Aber da ich dich nicht gut kenne, ist es leichter, die Frage für mich zu beantworten: Ich profitiere von Privilegien des Geburtsortes und Nationalität, des Standes/der Klasse (Mittelschicht), der Hautfarbe (weiß), der Gesundheit (nur eine chronische Krankheit, die mich an vielen Stellen nicht einschränkt), bin weitgehend neurotypisch und cis-passing. Von Diskriminierung betroffen bin ich aufgrund meiner sexuellen Identität und Orientierung, aufgrund der Zuschreibung, eine Frau zu sein, aufgrund meines Ostdeutschseins (was global gesehen lächerlich ist) und als Elternteil eines Kindes mit Behinderung.

Zitat
Schreiben bedeutet Konflikte zu bearbeiten. Geschichten spielen immer in irgendeiner Form von Gefüge. Es wird immer eine starke und eine schwache Position geben, immer ein Gefälle in irgendeiner Form. Diskriminierung ist mit diesem Hintergrund unausweichlich.

Ich sehe Gefälle und starke und schwache Positionen nicht als Notwendigkeit. Aber Konflikt schon. Allerdings finde ich es befremdlich, Diskriminierungen daraus abzuleiten. Denn dass Diskriminierungen sich in meine Texte einschleichen, hat doch eher damit zu tun, dass ich in einer Gesellschaft sozialisiert wurde, die von systematischen Diskriminierungen durchzogen ist. Ich stimme dir daher in deiner Ableitung zu: Es geht nicht die Frage, ob Diskriminierungen in meinen Texten vorkommen, sondern in welcher Form. Habe ich meine eigenen Privilegien reflektiert? Oder schreibe ich konservativ, das heißt, das fort, was ich erlebe oder wovon ich qua Privileg verschont bleibe? Genau das ist meines Erachtens der Kernpunkt progressiver Fantastik: Die Forderung nach der Reflexionsarbeit bezogen auf die eigenen Privilegien. Darum wundert es mich so, dass es oben scheint, als wüsstest du nicht, was ich damit meine. Oder reden wir da wieder aneinander vorbei?
Dein Beispiel für deine autistische Protagonistin beschreibt ja genau das: Du hast dir ein Sensitivity Reading gesucht, um keine Stereotype zu reproduzieren. Warum du das nicht als progressiv siehst, leuchtet mir nicht recht ein.
Wenn du anfängst, darüber nachzudenken, wer in deinen Texten vorkommt und wer nicht, dann beginnt dieser Prozess der Reflexion. Ich glaube ja, dass es nicht möglich ist, unpolitische Texte zu schreiben. Wenn wir also für uns entscheiden, nicht zu reflektieren, dann werden wir Diskriminierungen und -ismen reproduzieren. Und damit positionieren wir uns gegen die, die wir diskriminieren.

Zitat
Inwiefern bist du dir denn überhaupt über die Erzählstruktur deiner Träume bewusst?
Ich könnte dazu keine valide Aussage machen. Ich bin kein Mensch der ausgeprägt luzide träumt. Insofern bin ich mir auch nicht der Struktur meiner Träume im Klaren.

Was hat denn die Luzidität mit der Möglichkeit der Analyse der Träume zu tun? Die allermeisten Menschen träumen und vergessen es. Keine Möglichkeit der Analyse. Dann gibt es Träume, die werden erinnert. Und die kann man dann analysieren. Die Analyse geschieht doch nicht während des Träumens (und bei mir auch nicht während des Schreibens), sondern danach. Anders als beim Träumen gäbe es beim Schreiben noch die Möglichkeit, die Struktur zu planen. Ich gebe zu: Ich kann das gar nicht. Ich kann ganz grob planen, wo mein Text hingeht, aber die Struktur ergibt sich im Schreiben. Insofern fände ich das spannend, wie du es geschafft hast, einen Text in der Struktur des Haarteppichknöpfers (den ich nicht kenne) zu schreiben. Und warum du genau diese Struktur für das, worum es dir ging, gewählt hast.
Ich röste zunächst immer, ohne andere Röstungen zur Kenntnis zu nehmen. Dabei ist mein Ansatz der, eine qualifizierte Lesermeinung abzugeben, Euch also zu verraten, wie der Text auf mich wirkt und wie es mir beim Lesen geht und was ich gern anders hätte.

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Re: Alternative Erzählstrukturen
« Antwort #22 am: 18 June 2023, 19:57:22 »
Was hat denn die Luzidität mit der Möglichkeit der Analyse der Träume zu tun?

Wenn ich Träume erinnere, sie also analysieren kann, dann sind das Motive und Themen, manchmal eine Art Handlungsstrang. Aber doch nie die Erzählstruktur. So weit geht die Erinnerung ja nicht. Sie ist ja selten griffig und konkret, und wenn, dann in Details.
Einen Traum, dessen Erzählstruktur ich aber memorieren kann, müsste ich doch bewusst als solchen wahrnehmen, demnach luzide Träumen.

Zitat
Insofern fände ich das spannend, wie du es geschafft hast, einen Text in der Struktur des Haarteppichknöpfers (den ich nicht kenne) zu schreiben. Und warum du genau diese Struktur für das, worum es dir ging, gewählt hast.

Andreas Eschbach gibt auf seiner Webseite unumwunden zu, dass er die Struktur für sein Debüt aus der Not gewählt hat. Er wusste schlicht nicht, wie eine klassische Erzählstruktur aussieht. Also hat er Kurzgeschichten verfasst, die einen thematischen Zusammenhang haben und es geschafft, das als Roman zu verkaufen.
Ich hatte mit Sharlain meine erste Novelle geschrieben. Für einen Roman zu wenig. Für eine Anthologie zu lang. Was sollte ich tun? Die Novelle zum Roman erweitern? Das hatte sich nicht richtig angefühlt. Da habe ich mich an Eschbach und seinen Kunstgriff erinnert und darin für mich eine Möglichkeit gesehen.
Hat ja auch geklappt, irgendwie.  😉
« Letzte Änderung: 18 June 2023, 20:01:30 von diffusSchall »
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Re: Alternative Erzählstrukturen
« Antwort #23 am: 18 June 2023, 21:10:16 »
Moment mal: Was verstehen wir eigentlich unter Erzählstruktur?

Für mich ist es das, was ich auf struktureller Ebene sehe, wenn ich rauszoome. Wenn ich meine Träume betrachte, dann gibt es welche, die haben eine lineare Struktur, etwas passiert, die Handlung baut aufeinander auf. Andere Träume haben eher eine Mosaikstruktur, es gibt verschiedene scheinbar unverbundene Szenen, die sich abwechseln. Ich würde behaupten, ich könnte, wenn ich es unmittelbar täte, die Erzählstruktur aller meiner Träume analysieren.

Zu deinem Roman finde ich spannend, dass das für mich ja nicht geklappt hat. Ebenso wie ich mit der Struktur von  Lisa J. Kriegs Schildkröten meine Schwierigkeiten habe. Nun weiß ich von beiden Geschichten, dass das von der Struktur her eigentlich Kurzgeschichten waren. Es sind also aus der Not entstandene alternative Erzählstrukturen, die für viele Rezipient*innen passen. Mir sind sie zu mosaikhaft.
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Re: Alternative Erzählstrukturen
« Antwort #24 am: 19 June 2023, 08:29:50 »
Ich habe nicht genug Vertrauen darin, meine memorierten Träume so eingehend in ihrer Struktur zu analysieren. Meine Vermutung ist, dass einfach zu viel im Unbewussten bleibt.

Mosaik ist ein schönes Bild für diese oder ähnliche Erzählstrukturen.
Kleine Teile, die bei erhöhter Betrachtung ein größeres Bild zeigen oder andeuten.
Ich finde sowas sehr spannend.

Bei Andreas Eschbachs Debüt war es in der Tat eine Notlösung, das hat er ja so dokumentiert. Ich weiß nicht was Lisa J. Krieg bewogen hat diese Form zu wählen.
Bei Berbarath habe ich es als beste Lösung empfunden. Sharlain folgt ja schon sehr genau der klassischen Struktur. Ich empfinde die Geschichte als rund. Eine weitere Ebene im nachhinein einzuziehen, um auf Romanlänge zu kommen, fühlte sich falsch an. Ich hätte es auch bei der Novelle belassen können, Sharlain war sowieso als Spinoff eines wesentlich größeren Projektes entstanden. Insofern sehe und spüre ich da keine Not.

Eschbach kehrt immer mal wieder zu dieser oder einer ähnlichen mosaikhaften Struktur zurück. Wenn es bei ihm auch nicht die Regel ist. Die meisten Bücher die ich von ihm kenne sind im Aufbau konventionell.
Exponentialdrift ist fragmentiert, weil aus einem Schreibexperiment entstanden. Er hat jede Woche ein neues Kapitel geschrieben und immer eine aktuelle Schlagzeile vorne angestellt, auf die er reagiert hat. Auch hier ergibt sich aus den Kapiteln ein Gesamtbild, wenn sie auch keinen Kurzgeschichtencharakter haben.
In "Ausgebrannt" springt er wild in den Zeitebenen der Protas und zeigt schlaglichtartig vergangene Begebenheiten, deren Auswirkungen für die Gegenwartsschilderungen erst einmal gar nicht klar ist und sich erst mit dem Fortschreiten der Geschichte ergeben. Das ist für den Leser eine Herausforderung, weil erst gerade zu Beginn wahllos erscheint. Ist es aber nicht und sorgt für erstaunliche Aha-Momente.
Der generelle Handlungsbogen, die Art, wie sich die Hauptgeschichte entwickelt, bleibt dabei klassisch. Das ist dann schon hohe Kunst und zeichnet ein unglaublich dichtes Bild.

Cheers - Frank
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Re: Alternative Erzählstrukturen
« Antwort #25 am: 19 June 2023, 14:48:46 »
Dich einsortieren? Ich weigere mich! :cheer:

Schade.
Aber okay. Das wäre vielleicht etwas zu viel verlangt.    :biggrin:
Dann bleibe ich bis auf Weiteres heimatlos. Zu konservativ, um Progressive SF zu schreiben. Zu themenoffen, um konservativ zu sein.
Ich gebe wenig auf Schubladen, wenn es meine Selbstwahrnehmung betrifft. Da können mich andere gerne reinstecken, wenn sie sich damit besser fühlen. Vielleicht wirkt meine Selbstbeschreibung deshalb so divergent.
Ich glaube auch, dass wir in einigen Punkten immer noch nicht die gleiche Sprache sprechen und dass das auch im Gespräch ein langwieriger Prozess wäre für uns beide Klarheit zu schaffen. Fragt sich, wie weit wir das hier treiben möchten.
Zitat
Konservativ heißt doch erstmal, dass man den Status Quo beibehalten möchte. Man möchte eben alles so lassen, wie es ist. Das hieße also für SF: Ich mache mir über die Zukunft Gedanken, aber so, dass es keine kritische Sichtweise auf die Jetztzeit impliziert. Sind wir uns da einig? Wenn ja, verstehe ich tatsächlich nicht, wie du dich darin wiederfindest.

Wenn du solch ein Schwarz-Weiß-Bild zeichnest, dann gebe ich dir Recht. Da bin ich nicht.
Wenn du Graustufen zulässt und sagst, konservative SF bedeutet auch, eine kritische Sichtweise auf die Jetztzeit zu zeigen, sie aber nicht explizit zu bearbeiten, dann sehe ich mich da durchaus.
Ich sehe mich als beschreibenden Autor, nicht als aufzeigenden oder gar anklagenden. DAS empfinde ich zentral als konservativ. Vielleicht hilft dir das.
Mag sein, dass ich mir da selbst aber auch unrecht tue. Es liegt in meiner Natur, mich bei der Bewertung meines Tuns zurückzunehmen und eher tief zu stapeln. Ich bin da kein guter Anwalt meiner eigenen Person und fühle mich unbeholfen in der Selbstdarstellung, um nicht zu sagen Selbstvermarktung.
Wenn ich mir überlege, was die zentralen Themen meines aktuellen SF-Projektes sind, dann sind das Schuld und Angst. Das ist jetzt auch nicht wirklich konservative Unterhaltungs-SF, nicht wahr?
Ich merke gerade, dass ich mich im Rahmen unserer Diskussion immer desorientierter fühle.
Nur gut, dass ich sowas vordergründig nicht brauche, ein klar gezeichnetes, verbal artikuliertes Bild von mir. Mein Selbstvertrauen geht weit genug, dass ich mich gut fühle, wenn ich mich dabei auf meinen Bauch verlasse.

Zur Darstellung von Diskriminierung:
Zitat
Damit kann ich tatsächlich wenig anfangen. Einfach weil das meinem Erleben so sehr widerspricht, dass ich nicht recht nachvollziehen kann, wie du darauf kommst.

Vielleicht, weil ich das auch hier in erster Linie aus Sicht der Darstellung bewerte und nicht der Bearbeitung der Diskriminierung. Meine Asperger-Prota erfährt z.B. Diskriminierung, aber ich zeige perspektivbedingt nur ihre Reaktion, keine Innenschau und keine Verarbeitung. Das ist in dem Moment auch nicht zentrales Thema, sondern dient der realistischen Darstellung der Situation.
Das meine ich dann z.B. mit:
Keine zentrale Thematisierung von Diskriminierung.
Keine zentrale Wertung der Diskrimierung.
Vielleicht macht es das klarer.

Zu meiner privilegierten Position:
Mit deiner Einschätzung liegst du richtig.
Aber auch ich kenne Diskriminierung nur zu gut. Ich war in der Schulzeit massivem Mobbing ausgesetzt. Zum Glück habe ich es geschafft, das in meinem Leben hinter mich zu lassen, ohne größeren Schaden zu nehmen.
Was bedeutet diese Position in Hinblick auf meinen Wunsch unterhaltend zu schreiben, ohne den vordergründigen Anspruch, aktuelle Thematiken aufzugreifen und Zukunftslösungen anzubieten?
Ich muss gestehen, mir fällt es mir schwer da einen konkreten Bezug zu sehen.
Was hat allgemein meine privilegierte Position damit zu tun, über welche Themen ich schreibe?
Gibt es Themen, denen ich mich verschließen sollte, weil mir als Nicht-Betroffener dazu keine Stimme gebührt?
Gibt es Themen, dich ich als Nicht-betroffener aus moralischen Gründen nicht aussparen darf?
Grundsätzlich möchte ich persönlich jedem erlauben, alle Themen bearbeiten zu dürfen und nehme das auch selbst in Anspruch. Wie ich mit expliziten Themen umgehe, ist für mich eine Frage meines Wertesystems, meiner Menschlichkeit. Das mache ich nicht einer mehr oder minder privilegierten Position fest. Wenn mein menschliches Wertesystem nicht in Ordnung ist, dann nützt es mir auch nichts, wenn ich mir meiner privilegierten Position bewusst bin.

LieGrü - Frank
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merin

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Re: Alternative Erzählstrukturen
« Antwort #26 am: 19 June 2023, 15:45:15 »
Zitat
Was hat allgemein meine privilegierte Position damit zu tun, über welche Themen ich schreibe?
Gibt es Themen, denen ich mich verschließen sollte, weil mir als Nicht-Betroffener dazu keine Stimme gebührt?
Gibt es Themen, dich ich als Nicht-betroffener aus moralischen Gründen nicht aussparen darf?

Andersrum, Frank.  ;) Ich meine es andersrum: Gibt es Themen, über die du nicht schreibst, weil du sie aufgrund deiner eigenen privilegierten Position nicht wahrnimmst? Dass ich niemandem den Mund verbieten will, sollte hinreichend klar geworden sein.
Und hoffentlich auch, dass es mir gerade darum geht, Graustufen herauszuarbeiten. Wenn du meine Darstellung als schwarz-weiß wahrnimmst, ist das ein Zeichen für ein Missverständnis.

Kurz möchte ich darauf hinweisen, dass Mobbing und strukturelle Diskriminierung zwei sehr verschiedene Dinge sind und dass ich es schwierig finde, die durcheinander zu werfen.

Zum Thema Erzählstruktur frage ich mich, wie weit man die eigentlich wählen kann. Ich kann das nur zu einem kleinen Teil. Die spannende Frage ist, ob Geschichten über marginalisierte Personen in klassischen Erzählstrukturen bearbeitbar sind. Bei mir entsteht die Struktur mir dem Sujet und dem Thema.
Und: Gibt es hier Schreibende, die mal von einer Struktur ausgehend einen Text geschrieben haben? Ich habe das bei Gedichten gemacht, aber bei Prosa noch nie.
Ich röste zunächst immer, ohne andere Röstungen zur Kenntnis zu nehmen. Dabei ist mein Ansatz der, eine qualifizierte Lesermeinung abzugeben, Euch also zu verraten, wie der Text auf mich wirkt und wie es mir beim Lesen geht und was ich gern anders hätte.

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Re: Alternative Erzählstrukturen
« Antwort #27 am: 22 June 2023, 09:12:18 »
Andersrum, Frank.  ;) Ich meine es andersrum: Gibt es Themen, über die du nicht schreibst, weil du sie aufgrund deiner eigenen privilegierten Position nicht wahrnimmst?

Schreibend diskutieren ist manchmal echt frustrierend indirekt. Manchmal finde ich es sehr schade, dass wir so weit auseinander leben. Wir würden wahrscheinlich sehr spannende Gespräche führen.   ;)

Zu deiner Frage: Mit Sicherheit.
Blinde Flecken haben wir alle. Ich schreibe aus meiner eigenen Gefühls- und Erfahrungswelt heraus. Ich denke, es ist ein nachvollziehbarer Reflex, da aus der eigenen Perspektive und Position heraus erzählen zu wollen. Und auch legitim, wenn man bewusst eigene Themen bearbeiten möchte.
Ich finde es aber auch reizvoll aus dieser Position herauszutreten. Das war letztlich die Motivation Berbarath aus der Sicht von Protagonistinnen zu erzählen. Aber da muss ich grundsätzlich das Gefühl haben, dass ich diese Perspektiven überzeugend in den Griff bekommen kann. Ich würde mir nicht zutrauen eine Geschichte aus der Sicht einer Person mit Asperger-Autismus-Spektrum zu erzählen, weil mir die Erlebniswelt so völlig fremd ist.
Elisabeth Moon hat übrigens genau das in ihrem Roman "The Speed of Dark" überzeugend gemacht. Eine unglaubliche Leistung.

Kurz möchte ich darauf hinweisen, dass Mobbing und strukturelle Diskriminierung zwei sehr verschiedene Dinge sind und dass ich es schwierig finde, die durcheinander zu werfen.

Du hast recht. Mobbing kann auch andere Auslöser haben.
Die strukturelle Diskriminierung hinter dem Mobbing war darin begründet, dass ich als einziges Arbeiterkind in den Siebzigern in einer Gymnasiumsklasse war.

Zitat
Gibt es hier Schreibende, die mal von einer Struktur ausgehend einen Text geschrieben haben? Ich habe das bei Gedichten gemacht, aber bei Prosa noch nie.

Klar, Berbarath ist ja so entstanden. Die anderen Kapitel in Kurzgeschichtenform sind entstanden, nachdem ich die Struktur der Joint-Told-Stories für das Projekt festgelegt hatte. Aus der Struktur hat sich auch erst das Konzept ergeben, dass ich in dem Buch mehrere Jahrhunderte Geschichte umreißen wollte. Erst durch die Struktur kam ich auf den Gedanken, den Niedergang der Kolonie und damit den Verlust der menschlichen Werte darzustellen. Wenn ich die zugrunde liegende Novelle Sharlain zu einem Roman ausgebaut hätte, wäre es um völlig andere Themen gegangen.

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Re: Alternative Erzählstrukturen
« Antwort #28 am: 22 June 2023, 19:16:42 »
Wer weiß, vielleicht sehen wir uns mal auf einer Messer oder so. Und quatschen dann life.

Zitat
Die strukturelle Diskriminierung hinter dem Mobbing war darin begründet, dass ich als einziges Arbeiterkind in den Siebzigern in einer Gymnasiumsklasse war.

Klassismus also. Ja, das hat System. Und wird so oft übersehen. Ist nicht en vogue.

Ansonsten führt das Nachdenken über Themen und Strukturen zumindest bei mir zu der demütigen Einsicht, dass ich da nur ganz wenig Kontrolle drüber habe. Die Themen kommen und ich kann sie analysieren und mich ihnen dann widmen, meine Vorurteile usw. reflektieren ... aber ich kann mir nicht aussuchen, dass ich über xy schreiben will. Es muss mich packen. Die Struktur entsteht bei mir und ich kann mich dann entscheiden, das oder jenes zu tun oder zu lassen. Ich kann dranrum biegen. So habe ich mich bei "Das Geflecht" gegen einen riesigen Showdown entschieden, weil sich jegliche Art von Showdown für diese Art Geschichte falsch anfühlte. Keine Ahnung, ob ich da hätte einen Showdown hinbiegen können. Ich fürchte nicht. So ist also eine alternative Erzählstruktur entstanden, aber so recht bewusst war das nicht.

Haben wir alle anderen abgehängt?
Ich röste zunächst immer, ohne andere Röstungen zur Kenntnis zu nehmen. Dabei ist mein Ansatz der, eine qualifizierte Lesermeinung abzugeben, Euch also zu verraten, wie der Text auf mich wirkt und wie es mir beim Lesen geht und was ich gern anders hätte.

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Re: Alternative Erzählstrukturen
« Antwort #29 am: 23 June 2023, 15:29:14 »
Wer weiß, vielleicht sehen wir uns mal auf einer Messe oder so. Und quatschen dann life.
Ja, das wird bestimmt passieren, vielleicht auf der BuCon dieses Jahr. Und da freue ich mich auch sehr drauf.
Aber du weißt, wie das auf Cons ist, da bleibt selten Zeit für tiefe Gespräche.

Zitat
Ansonsten führt das Nachdenken über Themen und Strukturen zumindest bei mir zu der demütigen Einsicht, dass ich da nur ganz wenig Kontrolle drüber habe.
Woher soll die auch kommen? Wir werden noch einige Romanprojekte zu schreiben haben bis wir so weit sind, dass wir mit solchen Dingen virtuos umgehen können.
Das will ja gelernt und verinnerlicht sein, ehe man anfängt zu fliegen.

Zitat
So habe ich mich bei "Das Geflecht" gegen einen riesigen Showdown entschieden, weil sich jegliche Art von Showdown für diese Art Geschichte falsch anfühlte.
Da bin ich jetzt ehrlich überrascht. Am Ende läuft es doch auf einen klassischen Showdown hinaus:
Die Zerstörung der Welt droht, ein Wettlauf mit der Zeit entbrennt, die Invasion der terranischen Niederlassung und Eroberung der Energiemaschine.
Das ist doch de facto ein Showdown und ein zum Ende gesteigertes Finale. Jedenfalls bin ich ehrlich nicht darauf gekommen, dass da eigentlich eine andere Erzählstruktur deine Intension war.

Zitat
Haben wir alle anderen abgehängt?
Wahrscheinlich liest das Forum interessiert mit.

LieGrü, Frank
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