Seiten:
Actions
  • #1 von Juni am 06 Dec 2022
  • ich bin gerade auf der Arbeit und schreibe 'kurz' paar Gedanken auf, die mich schwer beschäftigen, damit ich das Thema nach einem Aufschieben nicht verwerfe.

    Hallo ihr lieben Teufel :)


    Bei der Frage: 'Was wollen die Protagonisten erreichen?' denke ich oft ganz stumpft: Na, das Ziel.
    In meinem derzeitigen Projekt 'der Turm' ist das Ziel auch klar definiert.
    Nebenbei haben Protagonisten dann noch andere Sorgen, und diese lösen sich nach Rezept 'on the fly' auf und wandeln sich eventuell in Stärken um.

    Das ist dann die Charakter Entwicklung. Ja, ich habe große Probleme mit diesem Thema und ignoriere diesen Aspekt beim Schreiben auch lange. Meist so lange, bis es irgendwo klemmt.

    Spannend wird es für einen selbst als Autor, wenn die Charaktere, die man dachte bereits zu kennen, noch mehr Tiefe gewinnen. Das spüre ich zumindest gerade wieder. Dann wird es selbst für einen spannend, und Knoten lösen sich. Oder neue kommen hinzu.

    Meine Prota Erie z.B. hat seit einem Ereignis in ihrem Leben Schuldgefühle, weil sie etwas nicht getan hat.
    Der andere Prota (Nahlen) hat wiederum Schuldgefühle wegen dem, was er getan hat.
    Bei beiden führt es dazu, in unterschiedlicher Ausprägung, dass sie versuchen Verantwortung zu umgehen, oder diese anderen zu zuschieben, weil sie sich dafür selbst nicht für fähig genug halten. (Erie wird von ihren Freunden/ Teammitgliedern gegen ihren Willen Boss oder Chefin genannt, und auch so behandelt. Das macht ihr eher Angst und Sorgen, als wie ein Zeichen von Vertrauen zu wirken, was es nämlich eigentlich ist.)

    In meiner Geschichte ist ein Vogel das Symbol für Befreiung/ Selbstständig- und Unabhängigkeit. Und selbst als Erie (als Einzige unter den Charakteren) wirklich eigenständig fliegen kann (weil sie ein Märchen sehr ernst nimmt), ist 'der Vogel' für sie ein anderer. Sie fühlt sich vor Schuldgefühlen und der Angst zu versagen fast wie unzurechnungsfähig und möchte, das ein anderer Entscheidungen für sie trifft. Ab dem Moment, ab dem sie sich wieder traut selbst bestimmt Entscheidungen zu treffen (zu 90%), erreicht sie das übergeordnete Ziel und befreit sich dadurch auch endgültig von ihren Schuldgefühlen.
    Ähnlich läuft es für den männlichen Prota, dessen persönliches Ziel für mich schon früher klar war.

    Kaum habe ich mich darüber gefreut, mehr von Eries Innenleben und ihre persönlichen Motive verstanden zu haben, dachte ich: 2 Protagonisten und 1 fast identischer, Innerer Konflikt? Wieso ist mir das nicht schon früher aufgefallen?
    Mist.
    Ist das nicht irgendwie blöd/ einfallslos...?


    Habt ihr vergleichbare Konflikte mit euren Protas/ Handlungen?

    Oder allgemein an Schuldgefühlen leidende Protas? Wie arbeitet ihr das in die Handlung ein?
    (Ich weiß noch nicht, wo und wodurch Erie es schafft sich zu überwinden. Bislang ist es so, als würde sie sich wie Münchhausen selbst am Kragen aus dem Sumpf ziehen  ::) )


    Ich hoffe auf euren Input :)


    Liebe Grüße


    'Kurz', hm ... nun ist der Text doch was länger geworden ...
  • #2 von LaHallia am 06 Dec 2022
  • Hi Juni,

    ich finde, dass deine Prota sehr unterschiedliche Konflikte haben. Die eine fühlt sich schuldig, wegen etwas, das sie nicht getan hat; der andere wegen etwas, das er getan hat.
    Das mag sich grob mal recht ähnlich anhören -> Schuldgefühle; im Detail ist das aber doch sehr anders. Das weißt du, sonst hättest du ihre Entwicklungen nicht unterschiedlich gemacht. Die Konsequenzen, die die beiden zu tragen haben sind ja auch unterschiedlich.
    Grundsätzlich könnten die beiden durchaus über ihr jeweiliges Problem mit dem anderen reden und sich so gegenseitig helfen. Weil Erie versteht, dass wenn sie "es" getan hätte, vielleicht trotzdem Schuldgefühle hätte, bzw es trotzdem auf irgendeine Art und Weise falsch gewesen wäre.
    Nahlen wiederum könnte langsam zu der Erkenntnis gelangen, dass etwas nicht zu tun auch nicht der richtige Weg ist. Vielleich fühlt er sich ja kurz besser ala: zumindest habe ich irgendetwas getan.
    Dafür müsste man halt wissen was konkret die beiden getan/nicht getan haben.

    Ich halte ja Schuld für eine tolle Möglichkeit der Charakterentwicklung. Schuld ist so Facettenreich. Du hast zwei davon beschrieben, es gibt ja auch noch etwas schuldig sein.
    Ich bin sicher, jeder hier kann dir auf Anhieb drei Dinge nennen, weswegen er ein Gefühl hat, das man in die Überkategorie "schuldig" einordnen kann. Und ich bin auch sicher, dass zehn Leute hier wohl 30 verschiedene Szenarien beschreiben werden, die sich ähneln mögen, aber doch höchst individuell unterschiedlich sind.

    Sehr spannendes Thema, das Prota eine Menge Vielfalt und Innenleben geben kann.

    Liebe Grüße
  • #3 von diffusSchall am 06 Dec 2022
  • Habt ihr vergleichbare Konflikte mit euren Protas/ Handlungen?

    Hallo Juni,

    bei dem Hauptprota meines aktuellen Romanprojektes ist Schuld und ein daraus resultierender Angstkomplex ein zentrales Thema.
    Der hält ihn zu Beginn davon ab, seine Aufgabe anzunehmen. Erst Sachzwänge und eine stärkere Verpflichtung machen ihm diesen Schritt möglich.
    Während der Entwicklung der Geschichte wird er mit seiner Vergangenheit und der Ursache seiner Schuld konfrontiert. Er lernt, seine vermeintliche Untat aus der Vergangenheit aus einer anderen Perspektive zu sehen, wodurch seine Schuld sich relativiert und sie sich für ihn so auflöst.
     
    LG - Frank
  • #4 von eska am 06 Dec 2022
  • Hi Juni.

    Ich finde auch, dass die Konfliktlage deiner Protas unterschiedlich genug ist. Das zentrale Thema Schuld darf mit allen Charakteren etwas zu tun haben - vielleicht gibt es z.B. eine Person, die Schuld so wenig ins Auge sehen kann, dass sie jeden potentiellen Vorwurf sofort entkräftet, nichts zugibt, nie, sich sehr schnell angegriffen fühlt etc.
    Wo ich aufpassen würde, ist die ähnliche Reaktion deiner Protas auf Schuldgefühle. Verantwortung meiden ist ja nur eine Facette, sich zu befreien, und kann auch Schuld bergen, wenn jemand an deiner Stelle Schlimme(re)s anrichtet. Einen Fächer von Varianten, mit denen Menschen mit Schuld umgehen, finde ich sehr reizvoll, von banal wie Vertuschen bis extrem wie Mord an evtl. Zeugen oder speziell wie psychisches Abspalten...
    Und es ist ja sehr abhängig von der eigenen Sozialisation und Umgebung, was man/frau als Schuld empfindet (und bei wem, auch bei sich selbst?). Da könnte man auch viel zeigen.

    Viel Erfolg,

    eska
  • #5 von Juni am 07 Dec 2022
  • Hallo ihr Lieben,
    danke für eure Antworten!


    ich finde, dass deine Prota sehr unterschiedliche Konflikte haben. Die eine fühlt sich schuldig, wegen etwas, das sie nicht getan hat; der andere wegen etwas, das er getan hat. Das mag sich grob mal recht ähnlich anhören -> Schuldgefühle; im Detail ist das aber doch sehr anders.
    Danke, dass lässt mich etwas entspannen. :)

    Zitat
    Die Konsequenzen, die die beiden zu tragen haben sind ja auch unterschiedlich.
    Erie hatte in einem vergangenen Bürgerkrieg einen Soldaten (Thark Doranie) als Kriegsgefangenen genommen. Die Mehrheit der Khanies hatte ihn hinrichten wollen, doch Erie ließ ihn laufen, weil er ihr versprach die Kriegsverbrechen, die begannen worden waren, öffentlich zu machen.
    Doch stattdessen wurde Thark eine Auszeichnung für herausragende militärische Verdienste verliehen, und Erie hörte danach nie wieder etwas von ihm. Dafür bekam Erie eine Menge Hass seitens ihrer Leute ab. Sie selbst fühlt sich, als hätte sie den Opfern und Hinterbliebenen damit Unrecht getan und hat sich geschworen, Thark umzubringen, sollte sie ihm je wieder begegnen.
    Dieses Schuldgefühl wird noch zusätzlich und auch absichtlich von einem ihrer Nächsten genährt, von Baren, der in Eries Augen regelrecht 'der Vogel/ Auserwählte' ist. Wenn es um ihre Arbeit geht, lässt sie sich von ihm nicht reinreden, ansonsten richtet sie ihren Glauben an ihm aus. - daraus muss sie sich befreien.

    Nahlen hat im Laufe des Bürgerkrieges Befehle befolgt, wodurch er den Tod vieler Kahnies verursachte. Er wünscht sich, er hätte diese Befehle missachtet. Indem er die Khanies unterstützt, möchte er eine Form von Wiedergutmachung leisten.

    Zitat
    Grundsätzlich könnten die beiden durchaus über ihr jeweiliges Problem mit dem anderen reden und sich so gegenseitig helfen.
    Dafür hat sich noch keine richtige Gelegenheit ergeben... Also sie sprechen es an, brechen das Thema dann aber auch immer schnell wieder ab. Vermutlich belasse ich es dabei. Die Geschichte endet auch an der Stelle, an der Nahlen Erie indirekt um Vergebung bittet. Bislang war ich selbst damit soweit zufrieden...

    Zitat
    Ich halte ja Schuld für eine tolle Möglichkeit der Charakterentwicklung. Schuld ist so Facettenreich.
    Ja... aber auch schmerzlich, und mit viel Nähe zu den Protas verbunden.
    Ich merke gerade, dass das viel tiefer geht, als ich es geplant hatte. Da das Genre unter anderem Aktion ist, muss ich mich dann besonders gewählt ausdrücken und die Infos gut verteilen und dosieren...


    Durch eskas Kommentar ...
    Das zentrale Thema Schuld darf mit allen Charakteren etwas zu tun haben
    ... kam bei mir die Überlegung auf, Aktion als Genre etwas in den Hintergrund zu schieben. Dann ist es nur noch Sci-Fi, was auch ok wäre. Das muss ich für mich abwägen...
    Das übergeordnete Thema ist Ausbeutung und Klassenkampf. Meine Khanies leben in 3te-Weltverhälntnissen.
    Ich habe noch nie daran gedacht, den 'Ausbeuter', also die Gesellschaft, als 'schuldig' zu bezeichnen, aber darauf läuft es indirekt hinaus.

    Zitat
    - vielleicht gibt es z.B. eine Person, die Schuld so wenig ins Auge sehen kann, dass sie jeden potentiellen Vorwurf sofort entkräftet, nichts zugibt, nie, sich sehr schnell angegriffen fühlt etc.
    Das ist wirklich absolut spannend ... das möchte ich nun einbauen! Danke. Bei einem Charakter bietet sich das auch an.

    Zitat
    Wo ich aufpassen würde, ist die ähnliche Reaktion deiner Protas auf Schuldgefühle.
    Ja.
    Und bei 'zu viel' des Schuldthemas möchte ich es indirekt halten, sonst kommt bei mir gerade die Befürchtung auf, dass dieses Thema doch viel präsenter in der Geschichte ist, als ich es bislang selbst gesehen habe, auch wenn es mir jetzt so offensichtlich vorkommt.

    Zitat
    Verantwortung meiden ist ja nur eine Facette, sich zu befreien, und kann auch Schuld bergen, wenn jemand an deiner Stelle Schlimme(re)s anrichtet. Einen Fächer von Varianten, mit denen Menschen mit Schuld umgehen, finde ich sehr reizvoll, von banal wie Vertuschen bis extrem wie Mord an evtl. Zeugen oder speziell wie psychisches Abspalten...
    Das erreicht wirklich sehr viele Tiefen... So tief wird es bei mir nicht gehen, aber vielleicht schaffe ich es, diese Facetten punktuell einfließen zu lassen.


    Der hält ihn zu Beginn davon ab, seine Aufgabe anzunehmen. Erst Sachzwänge und eine stärkere Verpflichtung machen ihm diesen Schritt möglich.
    Während der Entwicklung der Geschichte wird er mit seiner Vergangenheit und der Ursache seiner Schuld konfrontiert. Er lernt, seine vermeintliche Untat aus der Vergangenheit aus einer anderen Perspektive zu sehen, wodurch seine Schuld sich relativiert und sie sich für ihn so auflöst.
    Das klingt nach sehr viel Nähe zum Charakter.
    Durch dieses Beispiel habe ich gemerkt, dass ich mich nie 'richtig' in Erie hineingefühlt habe. Ich habe sie als Marionette am roten Faden entlanggezogen.
    Ich fragte mich, ob es möglich wäre, dass sie ihre Schuldgefühle auch durch eine anderen Perspektive relativieren könnte - kann sie nicht. Und ab der Frage: Was ist denn nötig?, fielen die Puzzlestücke voller Möglichkeiten.

    Kurz vor dem Ende der Geschichte ist sie am Tiefpunkt. Sie hat erneut versagt. In der jetzigen Form ist es das Gefühl der Verpflichtung, durch dass sie wieder auf die Beine kam, und ein wesentlicher Hinweis zum erreichen des Zieles. Aber wenn ich mich jetzt in sie hineinfühle, merke ich, dass es für die Überwindung dieses Tiefs unmöglich reicht. Hier bracht sie ein Stück Selbstheilung, sonst bleibt sie auf der Strecke liegen. Da muss ich nun die Puzzlestücke ausprobieren...


    Da kam bei mir nun wirklich viel in Gang...

    Lieben Dank und liebe Grüße
  • #6 von diffusSchall am 07 Dec 2022
  • Das klingt nach sehr viel Nähe zum Charakter.

    Das war der Plan.
    Davon bin ich im Draft leider meilenweit entfernt, weil ich die Innenschau vernachlässigt habe. Das heißt, die Komplexität des Charakters steht. Für die Nähe muss ich noch reichlich Hausaufgaben machen.  ;)

    Immerhin bin ich froh, dass ich mir im Vorfeld einiges an Gedanken zum Changeprozess meines Protas gemacht habe. Das erleichtert doch spürbar die Überarbeitung.

    LG - Frank
  • #7 von merin am 07 Dec 2022
  • Ich finde, Schuld und Schuldgefühle sind ein so weitreichendes Thema, das kannst du gut von verschiedenen Seiten beleuchten. Um es für dich noch etwas aufzudröseln, würde ich auch dazu raten, zu überlegen, wie es bei deinen Protas ist: Haben sie beide "nur" Schuldgefühle, sondern auch Schuld? Wie gehen sie damit um?

    Bei mir ist es bislang in allen längeren Texten so, dass meine Protas ähnliche Konflikte haben und davon verschiedene Seiten beleuchten. Im Geflecht geht es ganz wesentlich um Identität (okay, ich gebe es zu: in allen meinen langen Texten geht es um Identität), um Werte und auch um Schuld. Und zwar um kollektive Schuld. Ich finde das ein ganz, ganz spannendes Thema und das zu beleuchten, indem du verschiedene Protas verschieden darauf schauen lässt, finde ich einen guten Ansatz.
Seiten:
Actions