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Realitätsflucht?

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Bateman:
Ok, Uli, da hab ich pauschalisiert. Aber ich denke, dass jeder bei dem Wort ein Bild im Kopf hat und das ist eben "Dr. Stephan Frank", "Jerry Cotton" u.ä.

Für den Rest gilt meine Meinung: Ein Roman muss nicht in der Realität verhaftet sein, um etwas über die Realität zu erzählen. Und ich glaube auch nach wie vor nicht, dass die FachweltTM einhellig das Gegenteil sieht. Nicht von einer Podiumsdiskussion auf die Welt der Literatur schließen. Sonst wären wenigstens die Hälfte der Federteufel Realitätsflüchtige.

Parzifal:

--- Zitat ---oft wird gesagt, dass der heutige Zeitgeschmack bei Büchern  die Auseinandersetzung mit Mißständen zum Inhalt haben sollte. Ernst zu nehmende Autoren seien "verpflichtet", diese Dinge aufzudecken und sich kritisch damit auseinander zu setzen. Wie z. B. Gewalttätigkeiten, heute immer häufiger auftretende seelische Krankheiten und deren Auswirkungen auf die Menschen, marode Zivilisation anzuprangern, Fehler im zwischenmenschlichen Zusammenleben aufzuzeigen etc.
--- Ende Zitat ---

Vor diesen Karren lässt sich die Literatur hoffentlich nicht spannen, kann ich dazu nur sagen.
Das ist Aufgabe der Politiker, Diplomaten, Pädagogen, Ärzte, Psychologen, Betreuer etc.


--- Zitat ---Autoren, die sanfte, phantasievolle "märchenhafte" Erzählungen schrieben, würden Weltflucht betreiben und werden oft in der Fachwelt  "Märchentante" bzw. "Märchenonkel" genannt und geringschätzig als "Schreiberlinge" bezeichnet, die den Lesern eine heile Welt vorgaukeln.
--- Ende Zitat ---

Märchen sind keine heile Welt; da steckt oft bittere Realität dahinter. Hänsel und Gretel z.B. - da geht es um Armut, Hunger und verzweifelte Eltern. Im 19. Jahrhundert hat man Kinder von Tirol ins Schwabenland zur Arbeit geschickt, weil die Eltern kein Geld mehr hatten. Sie hatten keine Winterkleidung und mussten Berge überwinden und einige sind nicht im Schwabenland angekommen, weil sie unterwegs erfroren sind. Ich denke mal, dass Märchen aus solchen Nöten heraus geschrieben wurden.


--- Zitat ---Doch sind diese Autoren wirklich zweitklassig, nur weil sie versuchen, den Menschen etwas Schönes zu zeigen und zu erzählen -  sie auf eine Reise in eine Welt einladen, in der sie entspannen können und vielleicht sogar Kräfte tanken? Was meint ihr dazu?
--- Ende Zitat ---

Wie gesagt: Märchen sind schön erzählt, aber es stecken ernste Probleme dahinter.

Insgesamt: Die Kunst darf sich nicht vor einen Karren spannen lassen, den andere zu ziehen haben (wie oben schon angedeutet) Was aber nicht zwingend bedeuten muss, dass sie Problemen aus dem Weg geht - ganz im Gegenteil. Nur - dass sie verpflichtet sein soll, demonstrativ auf Missstände etc. hinzuweisen, halte ich für ein Gerücht.  ;)

tine-schreibt:
Äh... Seit wann ist es bitte akzeptabel, Künstlerinnen vorzuschreiben, wie sie ihre Kunst zu machen haben?
Snobistische Kulturelitisten ohne Geschichtsbezug, allesamt.

Ich meine, Mozart war seinerzeit seichte Popmusik (ist er heute auch noch, aber seichte Popmusik für Snobs), und was heute als literarischer 'Klassiker' gilt, war nicht selten Mainstream Literatur. William 'Dick Joke' Shakespeare z.B. war super hip; versautes Schnoddertheater fürs gemeine Volk, heute gilt er als literarische Größe, die ihresgleichen sucht.
Es ist eine reine Frage des Zufalls, welche Werke groß rauskommen, welche lange groß bleiben und welche den Zeitgeist und die gesellschaftliche Entwicklung tatsächlich beeinflussen.

Und, klar, alle Künstlerinnen haben einen gewissen Einfluss, und sei es nur auf einzelne Rezipientinnen und ihr Verhalten, und wer sich diesen Einflusses bewusst ist, muss sich entscheiden, wie er damit umgeht. Eine Entscheidung vorschreiben können wir aber nicht. Nachher kritisieren und Schadensbegrenzung betreiben, ja. Aber vorschreiben nicht.

Sirius:
@ Parzifal,

diese überlieferten Märchen wurden bei der Diskussion nicht genannt. Denn diese alten Märchen sind ja mündliche und später schriftlich festgehaltene Erzählungen, die seinerzeit vor einem bestimmten sozialen und kulturellen Hintergrund entstanden sind - das, was sie aussagen, kann auch heute noch Gültigkeit haben.
Es wurden die Schriftsteller genannt, die es in der näheren Vergangenheit und Gegenwart "wagen", märchenhafte Erzählungen zu schreiben. Wie z. B. seinerzeit Michael Ende von Kritikern als Schreiberling für Kinderkram bezeichnet wurde. Er hatte eine wundervolle Phantasie, hatte etwas zu sagen und mit der Risikobereitschaft eines Verlages wurden seine Bücher zu großen Erfolgen.
Nach Aussage des an der Diskussion beteiligten Buchhändlers werden diese Bücher nach einer Pause wieder vermehrt gekauft und nach anderen Klassikern wird immer wieder gefragt.
Ist das als sanfte Trendänderung zu sehen?

merin:

--- Zitat von: Sirius am 06 August 2014, 10:31:23 ---oft wird gesagt, dass der heutige Zeitgeschmack bei Büchern  die Auseinandersetzung mit Mißständen zum Inhalt haben sollte.
Ernst zu nehmende Autoren seien "verpflichtet", diese Dinge aufzudecken und sich kritisch damit auseinander zu setzen.
--- Ende Zitat ---

Bewerft mich mit Eiern, aber ich finde, das stimmt. Eine ernstzunehmende Geschichte sollte sich mit etwas beschäftigen, was dem Autor unter die Haut geht - und das sind meist Mißstände. Selbst die Utopie einer perfekten Welt beschäftigt sich ja mit der Überwindung von Mißständen - wenn sie gut durchdacht ist. Ein Text, der wirklich gut ist, muss mir nah gehen. Und wenn er das tut, muss er mit meinem realen Leben und dem Leben der Autorin zu tun haben.
Außerdem hat Kunst eine Funktion in der Gesellschaft. "Unterhalten" ist schön und gut, aber "verändern" ist nach meinen subjektiven Wertmaßstäben besser.

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