Hierzu gibt es sicherlich schon einige Einträge, aber schaden kann es sicherlich nicht, dass noch mal aufzurollen, oder?
Mich würde interessieren, wie ihr euch euren Charakteren nähert.
Denn ich habe die Erfahrung gemacht, dass das sehr unterschiedlich funktionieren kann. Ich habe zum Beispiel einfach drauf los geschrieben und mich an gängigen Tropes/ Archetypen orientiert (ohne es zu merken) und erst als ich damit an meine Grenzen gestoßen bin, habe ich tiefer gegraben.
Mein Prozess war dann etwas wirr, denn ich habe zwar gleichzeitig weiter geschrieben, aber immer wieder gemerkt, dass meine Figuren Fragen aufgeworfen haben, auf die ich eine Antwort brauchte und so haben sich da immer mehr Charaktereigenschaften und bestimmte Dinge ergeben, die dann wiederum den Text beeinflußt haben. Und dann durfte ich alles wieder neu schreiben, weil es nicht mehr zu meinen Charakteren gepasst hat.

Es war aber eine abgefahrene Erfahrung und nun bin ich, nach ca. 2-3 Jahren "zusammenleben" mit Loki, Freya und Fenrir and dem Punkt, dass ich sagen kann, ich kenne sie in- und auswendig. Das heißt nicht, dass sie mir immer locker von der Feder gehen, gerade bei Loki muss ich viel nachjustieren. Aber ich merke, wenn etwas nicht zu ihm passt. Wenn er zu offen ist, zu "lustig", zu sanft. Und ebenso bei den andren beiden. Ich weiß, was sie tun würden und was nicht, was ihre tiefsten Ängste sind und ihre Glaubenssätze. Und auch wenn die nicht in jeder Szene mitschwingen, so habe ich sie immer im Hinterkopf und irgendwie beeinflußt es das Schreiben am Ende doch.
Als Beispiel noch mal zu Loki: Dieser began eigentlich sein Leben als reine Nebenfigur in meinem Plot, aber jede Szene in der er auftrat, verlor den Faden. Immer wieder tat er Dinge oder sagte Dinge, die ich nicht geplant hatte, die aber dann so wesentlich waren, dass ich sie nicht rausnehmen konnte. So bemerkte ich vor allem irgendwann, dass Loki und Fenrir eine ganz besondere Beziehung hatten und mir wurde irgendwann auch klar, weshalb. Loki, der immer Einzelgänger war, von allen und allem ausgeschlossen, bleibt. Und das ausgerechnet an Fenrirs Hof, selbst nachdem das gemeinsame Ziel, Odin zu stürzen erfolgreich war. Was also war der Grund dafür?
Und dann ging es mir auf: Fenrir als Mittel zum Zweck war irgendwann zum Bedürfnis geworden. Aber weshalb? Weil Fenrir der erste war, der ihn so gesehen hat, wie er war und nicht zurückgeschreckt ist. Weil er in Loki das Gleiche gesehen hat, wie in sich selbst. Eine Seele, die zerbrochen ist, weil sie von der Gesellschaft in eine Rolle gezwungen wurde, die sie nie haben wollte. Und auch wenn beide damit unterschiedlich umgehen, sind sie darin gleich. Aber dann wurde mir bewusst, dass auch Fenrir einen "Nutzen" durch Loki hatte. Denn Loki war der einzige, der ihn nie nur als König behandelte, sondern immer noch als einfach nur "Fenrir." Einer der ihm die Wahrheit sagte, auch wenn sie weh tat, der ihn ärgerte, aber auch den Kopf gerade rückte, wenn es sein musste.
Und dann hatte ich da einfach Freya reingeworfen und mir wurde erst dann etwas klar. Sie war nicht nur der Spiegel für Fenrir und Loki, diejenige, die sie dazu aufforderte sich selbst zur hinterfragen. Sondern sie stellte auch ihr fragiles Gleichgewicht auf die Probe und damit eröffnete sich mir ein ganz neuer Horizont. Denn Fenrir und Loki sind nicht Rivalen um die gleiche Frau, sie sind in erster Linie zwei Menschen, die nicht damit umgehen können, was sie in ihnen weckt. In Bezug auf sie, auf den jeweils anderen und auf sich selbst.
Tja, und so nahm der Rest seinen Lauf...

Und was mir immer am meisten hilft, ist mich mit meinen Figuren in die Stille zu setzen, wie ich es nenne: ich setzte mich hin ohne einen besonderes Ziel im Kopf (ein wenig wie das aktive Imaginieren nach C.G.Jung) und lasse die Figur zu mir kommen. Und dann gehe ich mir ihr ins Gespräch. Hört sich jetzt nach Esoterik-Quatsch an, hilft mir aber tatsächlich ganz gut. Dann frage ich die Figur zum Beispiel: Warum hast du wirklich gelogen? Was war der eigentliche Grund? Oder warum hast du nicht den Mund aufgemacht? Vor was hattest du Angst? Was würde s für dich bedeuten, wenn du das offen zugeben würdest. etc.
So, aber bevor ich hier jetzt eine halbe Abhandlung schreibe würde mich interessieren wie ihr das so macht.