Lisa O'Donnell: Die Geheimnisse der Welt
Michael lebt mit seine Eltern und der Oma in Rothesay, einer kleinen Stadt in Schottland. Er ist 11 Jahre alt und aus seiner Perspektive wird die Geschichte erzählt.
Es sind die 80er Jahre und es ist die Zeit, in der Maggie Thatcher in England die Macht der Gewerkschaften bricht, die Marktkräfte entfesselt und den Krieg um die Falkland-Inseln führen lässt. Bewegte Zeiten für einen Arbeiterhaushalt, die Familie leidet unter der Arbeitslosigkeit des Vaters, die Mutter geht putzen, Oma hat keine eigene Wohnung mehr und muss integriert werden.
All das bringt die üblichen alltäglichen Spannungen in die Familie.
Aber dann kommt noch etwas hinzu: ein großes Geheimnis, das die Erwachsenen vor ihm verbergen wollen, von dem er immer nur am Rande und stückchenweise mehr erfährt, denn er ist ja noch zu klein, er versteht das noch nicht. Deshalb und weil ihm ja auch nichts anderes übrig bleibt, wenn er verstehen will, wie die Erwachsenen ticken, lauscht er so gerne an Türen, schnappt ihm unverständliche Wörter auf, sucht sich einen Reim darauf zu machen und kommt so diesem großen Geheimnisvollen, das da „Vergewaltigung“ heißt Stück für Stück näher.
„Vergewaltigung“ und „Exhibitionist“ – das sind Dinge, über die reden die Erwachsenen nur hinter vorgehaltener Hand in dieser kleinen Stadt. Man ist mehr oder weniger gezwungener Maßen bigott, man nimmt lieber Missverständnisse und falsche Verdächtigungen in Kauf, als ein solches Verbrechen beim Namen zu nennen, wenn es jemandem widerfahren ist. Die Schande, in Verdacht zu geraten, selber Schuld zu sein, wäre zu groß.
Für Michael ist das, was ihm da verborgen bleiben soll, irritierend, aber neben seinen sowieso schon irritierenden alltäglichen Problemen nichts Besonderes. Er ist neugierig und da gibt es Vieles, was ihm mindestens eben so wichtig ist: wie behauptet man sich unter Freunden, die immer auch Rivalen im Kräftemessen sind? Wie ist das zwischen den Mädchen und den Jungen, wieso fühlt er sich zu Marianne hingezogen, die doch eingebildet ist und wieso meint er, Alice ständig schlecht machen zu müssen vor den anderen? Was tun, wenn die verehrte Marianne ihm dann in den Büschen plötzlich das „Show me yours, I‘ll show you mine“-Spiel aufdrängt?
Das sind nur ein paar der vielen Rätsel, vor die Michael sich gestellt fühlt, die er versucht, auf verschiedenen Wegen aufzulösen, indem er sich erprobt im Umgang mit ihnen, indem er sich ausprobiert, kopiert und imitiert und lernt, was ihm das bringt, wenn er ruppig ist und verletzend oder stolz und überheblich.
Aber das große Geheimnis prägt das Familienleben zunehmend, es setzt neue Regeln, man darf nicht fragen, will verstehen und darf nicht sprechen darüber. Versucht, alles richtig zu machen und kann die Konsequenzen doch nicht einschätzen. Versteht die Schuldgefühle nicht, die den Umgang bitter machen, muss schweigen und will sich selbst doch nicht verlieren, will reden und verstehen.
Und wie das mit den großen Geheimnissen dann so ist – mit der Zeit werden sie offenbar, die Notlügen und Halbwahrheiten halten vor den wirklichen Ereignissen nicht stand, sie bieten keinen wirklichen Schutz.
Den bietet in dieser Geschichte zum Glück aber die Erfahrung, das man sich an die einmal gewählten Wege nicht zu halten braucht, das Offenheit hilft und nicht schadet. Das man Fehler machen kann, als Kind und als Erwachsener, das dadurch aber die Lebensweichen nicht endgültig gestellt sind, und wenn Michael gestern auch noch gemein zu Dirty Alice war, bemerkt er heute zu seinem eigenen Erstaunen, dass sie hübsche Bäckchen hat und im Gegensatz zu Marianne richtig gut küssen kann.
Zum Schluss also ein happy end, denn wir sind hier ja im traditionellen Milieu der englischen Arbeiterklasse, wo die Familie noch zählt, wo es rau aber herzlich zugeht und das Klassenbewußtsein zwar nicht mehr ausgestellt wird, aber doch noch kräftig genug ausgeprägt ist, um eine Gemeinschaft zusammen zu halten. So deutet sich nur am Rande an, dass aus einem liebenswerten kleinen Rüpel durchaus auch ein ausgemachter jugendlicher Macho werden könnte.
Am Ende ist der kleine Michael 12 geworden, traut sich, seine Dirty Alice zu mögen und onaniert ohne allzu schlechtes Gewissen auf ein Nackiheft.
Es gelingt Lisa O‘Donnel gut, all dies und mehr in einer Sprache vorzustellen, die ohne pädagogischen Impetus und moralisierende Überheblichkeit daher kommt.
Ich ließ mich gerne an Huckleberry Finn von Mark Twain erinnern.
[Edit]:
Autorin und Buchtitel auch im Body vorangestellt.