Ja, das kann ich versuchen. Gerne würde ich einen Link dazu einstellen, aber ich habe das in dem Buch „Kreativ schreiben – Handwerk und Techniken des Erzählens“ von Fritz Gesing gefunden.
Also, das Handelnde-Ich ist identisch mit dem Vergangenheits-Ich und das Erzählende-Ich mit dem Gegenwarts-Ich.
Nun meint Gesing, dass die Ich-Erzählung das alte Muster der Autobiographie aufgreift. Jemand erzählt, wenn er Ruhe und Muße gefunden hat, interessante Dinge aus seinem Leben. Hier gibt es eine große zeitliche Distanz zwischen dem Erleben und dem Niederschreiben des Erlebten. Der Erzähler spaltet sich also auf in das Vergangenheits-Ich, das damals die Ereignisse erlebt hat und in das Gegenwarts-Ich, das nun die Ereignisse aufschreibt/erzählt. Wenn der Erzähler nun die Distanz zu dem Erinnerten beibehält, beschreibt er, bewertet, berichtet, kommentiert und nähert sich damit dem allwissenden Erzähler an. Er fordert eher wohlwollende Anteilnahme anstatt emotionaler Identifikation.
Der Ich-Erzählerkann aber den Abstand zwischen der Erlebnis-Vergangenheit und der Schreib-Gegenwart auch auf ein Minimum schrumpfen lassen, wenn ihn die Erinnerung so fesselt, dass sie präsentisch wird. Damit fingiert er Nähe und zieht dann auch den Leser in das Geschehen.
Natürlich muss aber bei einer Ich-Erzählung nicht zwangsläufig eine so große zeitliche Distanz zwischen dem Erleben und dem Niederschreiben des Erlebten liegen wie bei der Autobiographie. Wer etwas Interessantes erlebt hat kann sich theoretisch ja auch sofort hinsetzen und die Erlebnisse zu Papier bringen und damit seine Gedanken und Gefühle, die ihm ja noch sehr präsent sind.
Soll nun die immer noch vorhandene zeitliche Distanz weiter abgebaut werden, dann haben wir eine Erzählung im Präsens. Der Ich-Erzähler schreibt also auf, was er erlebt, während er es erlebt. Das ist natürlich sehr theoretisch, denn selbst wenn er es ins Handy diktieren würde, stelle ich mir das etwa bei einer Verfolgungsjagd oder Liebesszene recht schwierig vor. Jedenfalls fließen hier Verhalten, Wahrnehmung und Darstellung im Augenblick der Gegenwart zusammen.
Bevor ich das von dem Handelnden-Ich und dem Gegenwarts-Ich gelesen habe, war mir eine Frage gekommen, die das Ganze vielleicht noch etwas verdeutlicht:
Ist es nicht so, dass die Gedanken im Präsens anders sind als die im Präteritum? Wenn ich die Gedanken im Präsens schreibe, dann ist es genau das, was die Person gerade in diesem Moment denkt. So, als würde sie ihre Gedanken aufschreiben, während sie sie denkt. Schreibe ich hingegen im Präteritum, dann erzählt die Person ja, was sie damals gedacht oder gefühlt hat. Damit sind die Gedanken wesentlich reflektierter, können ausgeschmückt und viel eher in Bildern ausgedrückt werden, die der Person spontan gar nicht durch den Kopf gegangen sind. Eigentlich charakterisiert das doch dann auch den Ich-Erzähler. Manch einer erzählt seine Erlebnisse sehr knapp und sachlich, während ein anderer seine Erzählungen gerne in die Länge zieht und umfangreich ausschmückt.
Ein Beispiel: Eine Frau geht nachts durch die Stadt. Plötzlich springen zwei maskierte Männer hinter einer Mauer hervor und halten ihr ein Messer an die Kehle.
Die Frau denkt: Scheiße, ich bin erledigt. Was soll ich jetzt bloß machen.
Später erzählt sie davon ihren Freundinnen: Es war die Hölle. Ich habe am ganzen Körper gezittert wie Espenlaub, während mir der Schweiß aus allen Poren strömte. Noch nie hatte ich eine solche Angst. Mein Herz raste wie verrückt, mein Kopf war wie leergefegt. Ich stand da, zur Salzsäule erstarrt, und wusste einfach nicht, was ich tun sollte.
Schreibe ich das nun wiederum im Präsens und in der Ich-Form kommt das dabei heraus:
Plötzlich springen zwei maskierter Männer hinter einer Mauer hervor und halten mir ein Messer an die Kehle. Es ist die Hölle. Ich zittere am ganzen Körper wie Espenlaub, während mir der Schweiß aus allen Poren strömt. Noch nie habe ich eine solche Angst gehabt. Mein Herz rast wie verrückt, mein Kopf ist wie leergefegt. Ich stehe da, zur Salzsäule erstarrt, und weiß einfach nicht, was ich tun soll.
Wer würde an Espenlaub, Schweißporen, eine Salzsäule und einen leergefegten Kopf denken, während er das Messer an seiner Kehle spürt?
merin schrieb dazu:
Natürlich würde ich in so einer Situation keine Ausschmückungen machen, weil es da um Tempo geht. Die Ausschmückungen würde ich machen, wenn ich zeige, wie die Prota davon erzählt. Oder darüber nachdenkt, aber in der Schilderung der Situation, würde ich sie in keiner Perspektive und Zeitform erwägen.
Betrachtet man das nun vor dem Hintergrund des Gesagten zu dem Handelnden-Ich und dem Erzählendem-Ich, dann wird deutlich, dass in einer solchen Szene, die zeitliche Distanz minimiert werden sollte, es unmittelbarer werden muss. Und damit wäre man schon fast beim Präsens. Das ist wohl auch der Grund dafür, dass manche Autoren in spannenden Szenen ins Präsens wechseln, obwohl sie eigentlich die Geschichte im Präteritum erzählen. Ob das nun in Form von inneren Monologen geschieht (so wie merin es vorgeschlagen hat) oder auch einfach so, ist mir allerdings noch nicht ganz klar.
Bei einer spannenden Szene sollte sich die Distanz zwischen dem Erzählendem-Ich und dem Handelnden-Ich also minimieren. Man sollte so schreiben als würde das Ereignis gerade jetzt passieren.
Zu meiner Überlegung bin ich aber eigentlich aufgrund einer weniger spannenden Szene gekommen. Und zwar ging es um meinen ersten Satz:
Die Gedanken in Luisas Kopf waren schwerer als die Schulsachen in ihrem Rucksack.
Dazu meinte kass:
Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass jemand in solchen Bildern von sich selbst denkt. Niemals würde ich einen solchen Gedanken haben wie diesen ersten Satz. Das mag bei anderen Menschen anders sein. Rein aus mir heraus würden mir andere Gedanken durch den Kopf gehen. Viel schlichter, viel konkreter, so was wie:
Zitat
Ich will nicht nach Hause. Ich will lieber zu Oma Kakao, aber das geht nicht mehr. Nie wieder. Also muss ich nach Hause. Mein Leben ist doch echt beschissen.
Daraufhin hatte ich eben überlegt, ob man das überhaupt so vergleichen kann, wo doch das eine im Präteritum und das andere im Präsens erzählt wird. Präteritum hatte ich eben immer mit dem Erzählen am Lagerfeuer in Verbindung gebracht. Das heißt, die zeitliche Distanz zwischen dem Erlebten und dem Erzählten ist im Präteritum größer und die Gedanken werden nicht so wiedergegeben, wie sie der Person im Moment des Erlebens durch den Kopf schießen.
Folgendes Beispiel:
Eine depressive Frau sitzt Zuhause rum und grübelt. Sie denkt dabei (Präsens) aber nicht:
„Puh, was habe ich heute wieder für schwere Gedanken.“
Sie denkt vielleicht eher:
„Es ist schrecklich. Ich weiß gar nicht, wie ich das schaffen soll. Alle sind gegen mich. Wie die Meyer gestern wieder geguckt hat. Und Mauzi ist auch tot. Mein Leben ist sinnlos. Ich will nicht mehr.“
Eine Woche später ist die Frau bei ihrem Therapeuten und sagt:
„Ach Doktor, letzte Woche hatte ich wieder diese Gedanken. Sie waren schwer wie Blei und zogen mich immer tiefer runter.“
Ohne Doktor im Präteritum (zeitliche Distanz):
Meine Gedanken waren schwer wie Blei und zogen mich immer tiefer runter.
Ohne Doktor im Präsens (keine zeitliche Distanz):
Meine Gedanken sind schwer wie Blei und ziehen mich immer tiefer runter.
Im Präsens finde ich das schon etwas seltsam, im Präteritum aber nicht.
Dennoch ist nun die Frage, ob es nicht besser wäre, die unmittelbaren Gedanken:
„Es ist schrecklich. Ich weiß gar nicht, wie ich das schaffen soll. Alle sind gegen mich. Wie die Meyer gestern wieder geguckt hat. Und Mauzi ist auch tot. Mein Leben ist sinnlos. Ich will nicht mehr.“
einfach ins Präteritum zu übersetzen, ohne den Inhalt zu verändern:
„Es war schrecklich. Ich wußte gar nicht, wie ich das schaffen sollte. Alle waren gegen mich. Wie die Meyer gestern wieder geguckt hatte. Und Mauzi war auch tot. Mein Leben war sinnlos. Ich wollte nicht mehr.“
Ich denke, dass hier die zeitliche Distanz zwischen dem Erzählendem-Ich und dem Handelnden-Ich relativ gering ist. Es wäre wohl nicht das, was die Frau ihrem Therapeuten eine Woche später erzählen würde.
Nun noch der Vergleich in der 3. Person:
Präteritum (zeitliche Distanz):
Ihre Gedanken waren schwer wie Beton und zogen sie immer tiefer runter.
Präsens (keine zeitliche Distanz):
Ihre Gedanken sind schwer wie Beton und ziehen sie immer tiefer runter.
Die unmittelbaren Gedanken im Präteritum:
„Es war schrecklich. Sie wußte gar nicht, wie sie das schaffen sollte. Alle waren gegen sie. Wie die Meyer gestern wieder geguckt hatte. Und Mauzi war auch tot. Ihr Leben war sinnlos. Sie wollte nicht mehr.“
Die Präsens-Form (2. Version) ist auch hier etwas seltsam. Und ich finde, dass der Vergleich zwischen dem Präteritum (1. Version) und den unmittelbaren Gedanken im Präteritum (3. Version) deutlich macht, dass sich die 3. Version der Ich-Perspektive mit geringer zeitlicher Distanz annähert, während die Distanz zwischen Erzähler und Figur in der 1. Version relativ groß ist.
Man kann also mal so nah an die Figur, dass der Erzähler fast mit ihr verschmilzt und dann kann man aber auch wieder die Distanz erhöhen.
Und damit haben wir das, was merin oben schrieb:
Mir kam nämlich neulich in der Beschäftigung damit und dem Lesen anderer Texte die geniale Erkenntnis, dass Perspektive ein Kontinuum und eine Pendelbewegung ist. Also nicht personal oder auktorial, sondern mehr oder weniger personal oder auktorial darüber meist noch ein pendeln hin zum und dann wieder weg vom Prota. Und dass gerade dieses sich mal ganz nah Heranbewegen und dann wieder etwas Abstand nehmen, die Dynamik eines Textes ausmachen kann.
Gesing schreibt dazu, dass so eine optimale Flexibilität beim Schreiben entsteht. Unterschiedliche Einstellungen von distanzloser Nähe bis hin zu einer gewissen Distanz gestalten das Erzählen abwechslungsreich. Dabei wird gleichzeitig der Zwang zu einer Identifikation mit einem Ich vermieden.
Puh, das war jetzt alles sehr theoretisch und ich weiß nicht, ob es verständlich war und hilft. Wahrscheinlich schreiben die meisten doch eher nach Gefühl, da Überlegungen, wann nun welche Distanz angebracht wäre, eventuell auch die Kreativität bremst. Aber vielleicht kann man sich ja hinterher beim Überarbeiten ein paar Gedanken dazu machen.
Vielleicht hat jemand eine Idee, wann die Distanz größer und wann sie kleiner sein sollte. Dass sie in spannenden Szenen möglichst gering sein sollte, hatte merin ja schon geschrieben. Aber wann ist eine große Distanz sinnvoll? Und wie bekommt man das in der Praxis mit dem Pendeln hin?
Liebe Grüße
von
Momo