Gestern hatte ich eine Erkenntnis, als ich an zwei Szenen arbeitete, die ich aus der Perspektive des einen Protagonisten geschrieben habe. Die Szenen spielen kurz vor dem großen Finale, befinde mich auf den letzten 100 Seiten. 500 Seiten davor gibt es schon.
Ich habe aber für mich festgestellt, dass ich in letzter Zeit ungern daran gearbeitet habe, mir wollte so gar nichts Gescheites einfallen. Also ließ ich die Szenen mit Lionel liegen, und gestern musste ich aber wieder ran. Es half nix, war eigentlich ein Krampf, zu schreiben.
Dann habe ich es sein gelassen, und habe an den Szenen gearbeitet, in denen mein Antagonist seine Intrige vorantreibt. Es flutschte nur so durch meine Finger. Der Rohtext war relativ schnell geschrieben.
Und dann fragte ich mich, warum ist das so, warum kann ich für den "Bösen" leichter schreiben als für meinen Helden?
Und da dämmerte es mir.
Bevor ich es später beschreibe, hier ein Dialog, der mir einfiel.
Im Gespräch sind. Der Autor und sein fiktiver Protagonist. Den Autor nenne ich Thorsten, den Charakter Lionel.
Thorsten: "Man, du bist mein Held, du rettest die Welt, sei nicht immer so negativ"
Lionel:"Will die Welt nicht retten, bin nicht deine Marionette"
T. "Du bist ein Held, Lieder werden auf dich gesungen."
L. "Ich will meine Ruhe! Ich will nicht König werden, ich will im Zirkus bleiben"
T. " Aber die Welt ist in Gefahr."
L. "Mir völlig wumpe, solls doch ein anderer machen."
T. "Aber in dir stecken die uralten Kräfte"
L. "Habe ich mir nicht gewünscht, außerdem warst du es, der mich damit ausgestattet hat."
T. "Ich wollte einen Helden erschaffen."
L. "Sorry, bin der Falsche dafür, suche dir einen anderen Deppen."
Wieso dieser Dialog. In zwei gerade aktiven Themen wird z.B. darüber gesprochen, ob Mehrbänder geplant werden können oder wie Szenen komponiert werden können.
Ja, wir können plotten, wir überlegen uns, wie ist die Geschichte, wie ist das Ensemble usw ist. Und natürlich habe ich mir über die Charakterplanung Gedanken gemacht. Und doch bin ich einem klassischen Anfängerfehler aufgesessen, der ein wenig ungewöhnlich ist.
In meiner Charakterplanung hatte ich angedacht. Lionel fühlt sich wohl im Zirkus, endlich hat er seine Ruhe gefunden, weil er eine scheiß Kindheit gehabt hat. Dann erfährt er durch Todd, dass Kräfte in ihm sind, die benötigt werden, die Welt zu retten. Klassisches Fantasy-Setting. Er stellt sich seiner Herausforderung, besiegt den Antagonisten im großen Finale. Er übernimmt Verantwortung und stellt sich den Gefahren.
So war es gedacht. Hier passierte nun folgendes für mich als Autor. Ich schuf einen mit sich selber zufriedenen Charakter, der seinen Platz in der Welt gefunden hat. Und je länger ich mir als Autor einredete, er ist der Auserwählte, so muss er handeln, wollte es nicht funktionieren. Denn - sagen wir es ist meiner Unerfahrenheit geschuldet - habe ich zwar geplottet, geplant wie ein Weltmeister. Ich wusste, also was die Handlung ist, wie welche Szene wann gesetzt werden sollte. Nur eben eines hatte ich vergessen, was ist eigentlich die Motivation meines Helden.
Und da suchte ich mal wieder auf meiner Lieblingseite und fand eine Erklärung
Writer on Board.
Obvious authorial intrusion. When the characters start behaving like idiots or acting against their established characterization because the writer damn well needs them to tell the story in a particular way, often to make a point. Who cares if the characters become less believable as a result?
Das war es, ich wollte einen strahlenden, charismatischen Helden, der es dem Bösen zeigt und ihn in der großen Schlacht niederringt. Aber alles was ich vorher geschrieben habe, zeigte einen anderen Helden. Er wollte kein Held sein, sondern nur seine Ruhe haben. Er hätte zwar prinzipiell seine Ruhe haben können, da aber in der Mitte des Romans alles schief gelaufen ist, muss er nun etwas machen, was er überhaupt nicht will.
Er will andere nicht leiden lassen, muss es aber tun, er kann aber auch nicht mehr in seinen Zirkus zurück, weil da wäre er nicht mehr sicher. Er fängt an zu grübeln und überlegt nur, wie er aus dem ganzen Schlamassel herauskommt. Das heißt, hinsichtlich seiner Motivation gibt es keine Gründe, überhaupt etwas zu tun. Und als ich das für mich erkannt hatte, dass der Autor seiner Figur etwas auferlegt hatte, was er selber gar nicht wollen würde, sondern er macht es nur, weil der Autor es will, wusste ich, warum ich so sehr stocke beim Schreiben.
Ich spürte, ohne es mir einzugestehen, ich lasse meinen Protagonisten wider seiner Natur handeln. Verrückt. Aber so wie ich ihn auf 300 Seiten skizziert hatte, kann ich nicht glaubhaft vermitteln, warum er sich auf 50 Seiten zum strahlenden Helden entwicklen kann.
Jetzt habe ich meine Konzeption angepasst, er handelt widerwillig, hadert ständig mit sich selbst. Aber er weiß, wenn er es nicht macht, wird er sterben. Er hat in seiner Situation keine andere Wahl. Also aus einem strahlenden Held, wird zunächst ein zaudernder Held.
Jetzt wusste ich auch, wie er von A nach B kommt mit dem finalen Kampf am Ende.
Und hier mag ich etwas für mich gelernt haben. Ich muss nicht nur auf die Grobplanung achten, wie ich Szenen anordne, sondern mich immer fragen, was würde denn realistisch der Charakter wollen und nicht der Autor.
Und das macht es dann auch noch schwerer, ganze Bände zu planen? Was wenn einem im zweiten Band auffällt, verdammt, dass passt doch gar nicht zu der Charakterisierung
T. "ok, habe dich verstanden, du willst kein strahlender Held werden"
L. "Jup"
T. "Willst du am Leben bleiben?"
L. "Ja."
T. " Du weißt, du wirst nie deine Ruhe finden, wenn du ihn nicht besiegst.
L."Verdammt ja, weiß ich, verdammt, lass ihn uns töten, dann wird alles besser"
Was L. nicht weiß, danach wird alles nur noch schlimmer. Aber das sage ich ihm erst im zweiten Band.
Das hier waren nur Gedanken eines Schreibenden, der gerade in einigen Szenen eine Scheibblockade hatte